Unser Auftrag

Das Blaue Kreuz hilft suchtkranken Menschen, unterstützt deren Angehörige und setzt sich für einen wirksamen Jugendschutz ein. Unser Motto lautet: Gemeinsam für eine Welt, in der Alkoholkonsum kein Leid verursacht.

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«Ich will mit meiner Vergangenheit Frieden schliessen»

Natalie Gautschi hat einen langen Leidensweg geprägt von Alkohol- und Kokainabhängigkeit hinter sich. Die 49-jährige Mutter von einem Kind wuchs im Kanton Neuenburg auf und lebt heute im Kanton Bern. Sie hat sich bereit erklärt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, um andern Suchtbetroffenen Hoffnung zu machen.

Blaues Kreuz: Warum hast du dich bereit erklärt, dieses Interview zu geben?

Natalie Gautschi: Ich finde es wichtig, meine Geschichte zu erzählen und über meine Alkoholsucht und den Weg aus ihr heraus zu reden. Ich will damit zeigen, dass es möglich ist, den Ausstieg aus der Sucht zu schaffen, und möchte Hoffnung verbreiten.

Machst du das für dich oder für andere?

Ich bin heute stabil, stehe fest in meinem Leben und möchte helfen. Zwar habe ich gelernt, achtsam zu sein und mir Sorge zu tragen. Gleichzeitig ist es mir wichtig, nach aussen zu zeigen, dass es einen Weg aus der Alkoholsucht gibt.

Was ist derzeit dein grösster Wunsch?

Eine Arbeit zu finden, die mich erfüllt. Als Erstes will ich herausfinden, was zu mir passt, wo ich meine Kreativität, meine Hilfsbereitschaft und meine Fähigkeiten einsetzen kann. So würde ich mich von der Sozialhilfe befreien, auf die ich heute angewiesen bin.

Wann warst du am Tiefpunkt deines Lebens?

Ich würde sagen 2007, als meine Tochter an Epilepsie erkrankte. Da brach für mich eine Welt zusammen. Ich war als Mutter völlig hilflos und wurde kaum unterstützt.

Wie war es dazu gekommen?

Das ist eine lange Geschichte. Meine Tochter ist mit einem Geburtsgebrechen zur Welt gekommen. Dazu kam ein Unfall, als sie drei Wochen alt war. Ich rutschte auf der Treppe aus und stürzte mit ihr zwei Meter in die Tiefe. Sie wäre fast gestorben. Die ersten Epilepsieanfälle hatte sie, als sie fünf war. Im Jahr 2007 musste ich sie in die Epilepsieklinik in Zürich geben, da die Anzahl Anfälle stark zugenommen hatten – bis zu zehn am Tag ! Leider reagierte sie nicht mehr auf Medikamente. Ich bereitete sie ein Jahr lang auf eine Operation vor, und 2008 wurde sie operiert.

Wurde sie geheilt?

Sie ist heute frei von Anfällen und muss keine Medikamente nehmen. Die Operation hinterliess aber Schäden. Sie hat das rechte Blickfeld verloren und kann deshalb zum Beispiel nicht Auto fahren. Sie hat sich aber prächtig erholt, macht heute eine Lehre und steht voll im Leben!

Erzähl mir von deiner Familie. Hast du Geschwister ?

Von zwei Halbschwestern weiss ich. Möglicherweise gibt es noch zwei weitere … Meine leibliche Mutter brachte mich zur Welt, als sie zwanzig war. Sie kam damals … (kämpft mit Tränen) in eine Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche und kehrte mit mir in den Armen zurück. Dann lebte sie bei ihren Eltern in Neuenburg und kümmerte sich um mich, wenn sie nicht arbeitete. Ich hatte damals eine enge Beziehung zu meinen Grosseltern. Meine Grossmutter wurde für mich zur Mutter und blieb es bis zu ihrem Tod.

Weisst du, wer dein leiblicher Vater ist?

Nicht mit Sicherheit. Meine Mutter stellte mir einmal jemanden als meinen Vater vor. Ich weiss aber nicht, ob er es wirklich war.

Möchtest du herausfinden, wer dein Vater ist?

Das ist zurzeit ein Thema in meiner Therapie. Mir fehlte eine Vaterfigur.

War dein Grossvater nicht präsent?

Aufgrund der psychischen Krankheit meiner Grossmutter war mein Grossvater nicht gern zuhause. Ich habe aber wunderschöne Erinnerungen an ihn.

Woran litt deine Grossmutter?

An Schizophrenie. Mein Grossvater war Trinker. Meine leibliche Mutter auch. Ab sechs lebte ich in einem Heim, mit acht Jahren kam ich zu einer Pflegefamilie. Dort lebte ich, bis ich einundzwanzig war.

Sahst du deine leibliche Mutter noch gelegentlich?

Nein. Nach dem Tod meines Grossvaters sah ich sie zum ersten Mal wieder, da war ich vierzehn. Mit zweiundzwanzig Jahren versuchte ich, meine drei Jahre jüngere Halbschwester zu finden, und traf dann auch meine leibliche Mutter wieder. Es war aber leider nicht möglich, mit meiner Halbschwester in Kontakt zu treten. Sie lebte wie ich für kurze Zeit bei meinen Grosseltern und wurde dann auf einen Eingriff des Sozialdienstes hin entfernt. Wir wurden beide zur Adoption freigegeben. Meine Halbschwester wurde von einer Familie adoptiert. Die Familie hätte eigentlich auch mich adoptieren sollen. Das ging aber nicht. So kehrte ich zu den Grosseltern zurück.

Hatte deine Pflegefamilie selbst Kinder?

Sie hatten eine Tochter, die im gleichen Alter wie ich war.

War deine Pflegefamilie gesund?

Sie war übergesund (lacht). Ihr ganzes Leben bestand aus Sport.

Waren die Beziehungen gesund?

Im weitesten Sinn ja. Wir erhielten Zuneigung und Unterstützung. Allerdings mussten wir dafür kämpfen und etwas leisten. Meine Schwester und ich wurden zum Sport angetrieben. Ich verbrachte mindestens zwölf Stunden pro Woche in der Turnhalle, turnte an den Geräten und kam weit. Ich wurde die jüngste Wettkampfrichterin. Meine Pflegemutter war Turnleiterin, mein Pflegevater war Präsident des Turnvereins. Es war eine Sportlerfamilie. Ich hätte lieber Tennis gespielt.

Welche Werte hielt deine Pflegefamilie hoch?

Anstand, Respekt und Hilfsbereitschaft. Meine Pflegemutter gab weiter, was sie selbst als Kind erhalten hatte. Sie war das älteste von neun Kindern gewesen und hatte früh Verantwortung übernommen. Sie konnte meiner Schwester und mir keine bedingungslose Liebe geben, weil sie diese selbst nicht erfahren hatte. Mein Pflegevater war ganz anders, ein sehr liebevoller Mensch. Doch hatte sie das Sagen. Es hiess: Wenn du etwas willst, dann musst du kämpfen.

Hatte diese Erziehung auch etwas Gutes?

Sie trug sicherlich dazu bei, dass ich zu dem Menschen geworden bin, der ich bin. Dass ich mich in meinem schwierigen Leben durchsetzen konnte und Ziele erreichte. Ich lernte, dass ich mich einsetzen musste, wenn ich etwas erreichen wollte.

Konntest du bei der Pflegefamilie deine schwierige Kindheit vergessen?

Nie. Ich lebte immer zwischen zwei Welten. Ich besuchte regelmässig meine Grossmutter und hatte eine enge Beziehung zu meiner Tante, einer Halbschwester meiner Mutter, die zehn Jahre älter ist als ich.

War deine Vergangenheit eine Last ?

Meine Vergangenheit war immer eine Last. Ich habe erst vor kurzem gelernt, mich davon zu befreien.

Unterhältst du heute noch Kontakt zu deinen Pflegeeltern? Nein.

Warum?

Weil das natürliche Geben und Nehmen zwischen uns nicht funktionierte. Als meine Tochter zur Welt kam, hatten wir noch Kontakt; auch nach dem Unfall mit meiner Tochter. Meine Pflegemutter war die einzige Person, mit der ich sachlich und vernünftig reden konnte.

Trotzdem hast du keinen Kontakt mehr zu ihr?

Es war immer dasselbe: Wenn ich nicht zu ihr ging, dann kam sie nicht zu mir. Ich war es, die zu ihr reisen sollte.

Gab es einen bestimmten Anlass, dass du den Kontakt zu deinen Pflegeeltern abgebrochen hast?

Ja, die Krankheit meiner Schwester. Ihr leibliches Kind wurde mit achtzehn magersüchtig. Dafür gab ich meiner Pflegemutter die Schuld. Das passte ihr nicht … Ich war rebellisch geworden und keine einfache Person. Ich hatte nie eine herzliche Beziehung zu meiner Pflegemutter.

Empfindest du Dankbarkeit für deine Pflegefamilie?

Ich empfinde keine Dankbarkeit. Sie wurden vom Staat dafür bezahlt (kämpft mit Tränen).

Sie haben mir viel gegeben, aber zu wenig Liebe.

Wie erlebtest du die Schulzeit? Ich ging gern zur Schule und war für lange Zeit eine gute Schülerin. Das änderte sich schlagartig nach einem Schulwechsel. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr und liess alles schlittern.

Warum?

Ich war es leid, das perfekte Mädchen zu sein und alles nach Vorschrift und Mass zu machen.

War das Rebellion? Erschöpfung?Das Gefühl, nicht du selbst zu sein?

Ich war nie ich selbst. Ich spielte mein Leben lang eine Rolle und passte mich den Situationen an. Damals verlor ich den geschützten Raum, in dem ich mich wohl fühlte. Ich hätte die letzte Klasse wiederholen müssen und lernte stattdessen Schneiderin. Eigentlich wollte ich Anwältin werden …

Was hätte dich daran gereizt?

Ich hätte gern Gerechtigkeit für Kinder hergestellt. In der Lehre strengte ich mich dennoch an und wurde die Drittbeste im Kanton.

Bedeuten dir die Religion oder die Kirche etwas?

Ich bin reformiert getauft. Wenn ich an die Kirche denke, dann fallen mir der Papst und die Glaubenskriege ein, all das Leid in der Welt … Das macht mich traurig. Für den Glauben brauche ich keine Kirche, keinen Gott und auch nicht Jesus. Ich bete nicht unbedingt, gehe aber ab und zu mit meiner Tante in die Kirche. Sie brachte mich übrigens mit dem Blauen Kreuz in Kontakt. Sie und ihre Familie sind sehr gläubig, sie lesen täglich in der Bibel und beten. Das stört mich gar nicht … (Hält längere Zeit die Luft an.) Irgendwie habe ich schon einen Glauben. In der Vorbereitungszeit meiner Konfirmation ging ich viel in die Kirche. Dann wieder, als meine Tochter sehr krank war und nach meiner Trennung.

Was zog dich an?

Die Ruhe; einfach nur zu sein. Inzwischen gehe ich mit meiner Tante gelegentlich zu einem Mittagstisch, der von der Kirche organisiert wird. Ich bin gern unter Gläubigen, allerdings ohne über Gott zu reden. Meine Tante und ihr Mann respektieren das. Ich bewundere das Engagement der Kirche, etwa für Kinder oder Notdürftige.

Welcher Gott begegnet dir?

Einer, der Trost und Kraft spendet. Letztes Jahr verlor ich meinen neuen Freund. Ich zündete jeden Tag eine Kerze an und bat Gott um Kraft. In dieser schwierigen Zeit ging ich ab und zu in die Kirche. Mich zieht es mehr zu Gott, wenn es mir nicht gut geht, als wenn es mir gut geht. Seit ich keinen Alkohol mehr trinke, ist die Dankbarkeit für mich wichtig geworden. Ich erkenne heute die Bedeutung dieses Wortes. Ich brauche die Dankbarkeit und bin wieder in der Lage, sie zu empfinden.

Wie verbrachtest du als Jugendliche die Freizeit?

Ich tanzte gern und hörte Musik – für viel mehr hatte ich keine Zeit. Bis ich 25 Jahre alt war, ging ich häufig tanzen.

Hattest du enge Freundschaften?

Nach der Trennung von meinem Mann verbrachte ich viel Zeit mit einer Freundin, die ich durch ihn kennengelernt hatte. Sie trennte sich kurz nach mir von ihrem Mann. Unsere Freundschaft löste sich auf, nachdem sie einen neuen Mann kennengelernt hatte. Ich kann aber weiter auf sie zählen. Ich habe wenige, aber echte und wertvolle Freundschaften.

Wie lerntest du deinen Mann kennen?

Ich war 25, hatte längere Zeit als Barmaid gearbeitet und führte ein wildes Leben. Dann nahm ich eine Auszeit und lebte eine Zeit lang bei meiner Tante in der Deutschschweiz. Am 1. August wurde ich zu einem privaten Fest eingeladen. Dort lernte ich meinen Mann kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick … Wir lebten dreizehn Jahre zusammen. Nachdem ich schwanger geworden war, heirateten wir. Wir bekamen eine Tochter.

Warum habt ihr euch getrennt?

Mein Mann warf mich aus der Wohnung, weil ich Geld veruntreut und übermässig Alkohol getrunken und Kokain genommen hatte. Nach einer ersten Therapie, in der er mich unterstützt hatte, fing ich wieder an zu trinken und wurde wegen Suizidgefahr in die Psychiatrische Klinik Waldau eingeliefert. Da packte er meine Sachen in der Wohnung zusammen und schickte sie in die Klinik.  So trennte er sich von mir.

Warum hat er das getan?

Er hatte angekündigt, wenn ich wieder mit Trinken anfange, werde er sich von mir trennen. Das hat er dann getan.

Hattest du diese Konsequenz erwartet?

Ja. Das Kokain nahm ich, um nach dem Alkohol funktionieren zu können. Den Alkohol nahm ich, um zu vergessen. Wegen dem Kokain machte ich grosse Schulden und plünderte das Konto meiner Tochter. Das ist heftig … Ich bin nicht stolz darauf, aber so war es halt. Ich kann es nicht ungeschehen machen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten verstand ich mich mit meinem Exmann wieder gut. Wir wollten auf keinen Fall, dass unsere Tochter unter der Trennung leiden würde. Meine Tochter hat mir zum Glück verziehen.

Hofftest du, dass du und dein Mann wieder zusammenfinden würden?

Ja, lang. Nach einem Jahr hatte mein Exmann allerdings eine neue Lebensgefährtin.

Mit 15 Jahren lerntest du Schneiderin.Warum diese Wahl?

Aus Not. Da ich das letzte Schuljahr nicht bestanden hatte, musste ich eine Lehre machen. Ich nähte gern und dachte, vielleicht könnte ich nach der Lehre Mode studieren und Designerin werden.

Gefiel dir die Lehre?

Ja. Heute vermisse ich das Schneidern, aber man kann davon kaum leben. Um mehr zu verdienen, wurde ich Modeverkäuferin. Ich mag den Kontakt zu den Kunden und arbeitete mich zur Geschäftsführerin hoch, später zur Filialleiterin. Im Februar 2017 verlor ich wegen meinem Alkoholkonsum die Stelle. Seit dem 17. August 2017 bin ich trocken – es sind jetzt über 1000 Tage!

Warum hast du nicht wieder einen Laden übernommen?

Weil ich diese Verantwortung nicht mehr tragen will. Der Zahlendruck ist enorm. Restaurants und gewisse Geschäfte kommen wegen des Alkoholverkaufs für mich nicht in Frage. Ich könnte mir vorstellen, in einer Betriebskantine zu arbeiten. Ich wünsche mir eine neue Herausforderung mit menschlichen Kontakten.

Was trieb dich als Filialleiterin zum Alkohol? Stress ?

Nein, Unzufriedenheit. Ich trank kontrolliert, das heisst, ich trank nur, wenn ich am nächsten Tag nicht arbeiten musste. Es kam aber zu Abstürzen.

Glaubst du, dass kontrolliertes Trinken nach einer Alkoholgeschichte möglich ist?

Eindeutig nein ! Ich werde es nie mehr versuchen. Zum Glück habe ich keine Lust auf Alkohol; den Suchtdruck kenne ich nicht.

Was brachte dich beim ersten Mal zum übermässigen Trinken?

Gefühle, die mich überwältigten.

Wann hast du gemerkt, dass du mit Alkohol ein Problem hast?

Als ich mit 23 Jahren aufhörte, als Barmaid zu arbeiten. Eines Nachts merkte ich, dass ich nicht einschlafen konnte. Ich fuhr wieder in die Stadt und trank drei Gin Tonics, um herunterzufahren und den Schlaf zu finden. So fing es an.

Woran merktest du, dass du zu viel getrunken hattest?

An den Blackouts. Wenn du nachts daheim aufwachst und dich nicht erinnern kannst, wie du nach Hause gekommen bist, dann merkst du, dass etwas nicht stimmt. Ich wusste: So kann es nicht weitergehen.

Was war das Angenehme am Alkoholkonsum?

Das Vergessen. Das Sich-Betäuben. Den seelischen Schmerz zu lindern.

Was wolltest du vergessen?

Meine Gefühle. Die Schuldgefühle gegenüber meiner Tochter, da ich getrunken hatte. Ich kam nicht mehr klar mit meinem Leben, konnte nicht mehr mit meinen Gefühlen umgehen und verdrängte die Probleme.

Wie sah damals ein typischer Tagesablauf aus?

Mein Mann ging zur Arbeit. Ich weckte meine Tochter, trank ein Bier, bereitete der Tochter ein Frühstück und brachte sie zur Schule. Dann kehrte ich nach Hause zurück und trank ein zweites Bier oder etwas Stärkeres. Wenn mein Mann den Alkohol in unserer Wohnung versteckte, holte ich im Keller Schnaps. Um elf Uhr war ich zu. Ich raffte mich auf, bereitete ein Mittagessen für meine Tochter zu …

Merkte sie, dass etwas nicht stimmte?

Ja. Sie ging häufig zu ihren Grosseltern zu Mittag essen. Nachmittags verliess ich das Haus, um Kokain zu organisieren, und putschte mich auf, um nach der Schule für meine Tochter präsent zu sein. Abends kam mein Mann von der Arbeit zurück, wir schliefen häufig beide auf der Couch ein. Am nächsten Tag fing alles wieder von vorn an.

Was waren die wichtigsten Stationen deiner Alkoholerkrankung?

Mit 23 Jahren stellte ich fest, dass ich ohne Alkohol nicht mehr schlafen konnte. Dann lebte ich einige Jahre normal. Der Konsum stieg an, als ich realisierte, dass die Epilepsie meiner Tochter nicht mit Medikamenten in den Griff zu bekommen war. Nach ihrer Operation machte ich eine erste Therapie in der Klinik Südhang. Dann kam der Rückfall, die Trennung von meinem Mann, die Einlieferung in die Klinik Waldau und sechs Monate im Südhang. Ich trat eine Stelle im Verkauf an, fing wieder zu trinken an und verlor die Stelle. Ich fasste mich wieder und trat eine neue Stelle als Filialleiterin an, die ich wegen meinem Alkoholkonsum abermals verlor. In der dritten Therapie wurde mir klar, dass ich krank war. Das half mir.

Was an der Erkenntnis, krank zu sein, half dir?

Dass ich mich nicht zu schämen brauchte. Für eine Krankheit braucht man sich nicht zu schämen. Eine Krankheit ist allgemein anerkannt. Es gibt Lösungen zur Heilung. Der Alkoholismus ist eine tödliche Krankheit. Mir wurde klar: Ich will leben. Hinzu kam mein Wille. Die erste Therapie machte ich wegen meines Mannes, die zweite nach der Trennung, um meine Tochter nicht zu verlieren. Erst die dritte wollte ich von mir aus. Mein Wille war entscheidend und die Einsicht, eine Krankheit zu haben, mit der ich leben kann, solange ich die Finger vom Alkohol lasse.

Besteht die Krankheit unabhängig davon, ob du trinkst?

Ja. Ich lebe mit dieser Krankheit. Das Zweite ist die Regulierung meiner Gefühle. Daran arbeitete ich intensiv in einer Therapie.

Was hast du dort gelernt?

Heute kann ich meinen Problemen ins Auge schauen, sie in Angriff nehmen und Lösungen finden. Ich habe die Freude wiedererlernt, die Achtsamkeit, die Dankbarkeit und das gesündere Leben. Ich habe viel Gutes gewonnen und lasse mich nicht mehr so leicht stressen.

Wo liegt der Grund für diese Freude?

In der Arbeit an mir und der Liebe zu mir selbst, die übrigens eine Lebensaufgabe ist. Ich hatte mich nicht mehr geliebt. Ich habe mich nie wirklich geliebt, sondern Anerkennung für meine Leistungen gesucht. Heute bin ich stolz auf das, was ich geleistet habe

Was trägt dich heute im Leben?

Die Zufriedenheit. Zu sehen, dass ich nicht trinke. Die bestärkenden Rückmeldungen aus meiner Umgebung. Und die neue Beziehung zu meiner Tochter.

Warum führst du die Therapie heute fort?

Ich will meine verschiedenen Ichs verstehen. Es gibt vier davon, drei aus dem Erwachsenenleben und eines aus der Kindheit. Ich will mit allen Ichs einigermassen in Einklang sein und mit meiner Vergangenheit abschliessen.

Was braucht es, damit du die Therapie abschliessen kannst?

Ich glaube, wenn ich Frieden mit meiner Vergangenheit gemacht habe, wird es gut sein. Ich muss heute niemandem etwas verzeihen, sondern ich muss Frieden schliessen.

Wie geht es dir heute ohne Alkohol?

Besser denn je. Es ist nicht immer einfach, «dranzubleiben», aber notwendig. Ohne Alkohol und andere Suchtmittel lebe ich wirklich wieder. Ich kann vieles wieder geniessen und mich an kleinen Dingen erfreuen. Ich bin in meinem Leben angekommen. Der Weg hat sich gelohnt!

Quelle:

Interview, 1. Teil: Blaues Kreuz 2/2020

Interview, 2. Teil: Blaues Kreuz 3/2020

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«Ich will mit meiner Vergangenheit Frieden schliessen»

Natalie Gautschi hat einen langen Leidensweg geprägt von Alkohol- und Kokainabhängigkeit hinter sich. Die 49-jährige Mutter von einem Kind wuchs im Kanton Neuenburg auf und lebt heute im Kanton Bern. Sie hat sich bereit erklärt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, um andern Suchtbetroffenen Hoffnung zu machen.

Blaues Kreuz: Warum hast du dich bereit erklärt, dieses Interview zu geben?

Natalie Gautschi: Ich finde es wichtig, meine Geschichte zu erzählen und über meine Alkoholsucht und den Weg aus ihr heraus zu reden. Ich will damit zeigen, dass es möglich ist, den Ausstieg aus der Sucht zu schaffen, und möchte Hoffnung verbreiten.

Machst du das für dich oder für andere?

Ich bin heute stabil, stehe fest in meinem Leben und möchte helfen. Zwar habe ich gelernt, achtsam zu sein und mir Sorge zu tragen. Gleichzeitig ist es mir wichtig, nach aussen zu zeigen, dass es einen Weg aus der Alkoholsucht gibt.

Was ist derzeit dein grösster Wunsch?

Eine Arbeit zu finden, die mich erfüllt. Als Erstes will ich herausfinden, was zu mir passt, wo ich meine Kreativität, meine Hilfsbereitschaft und meine Fähigkeiten einsetzen kann. So würde ich mich von der Sozialhilfe befreien, auf die ich heute angewiesen bin.

Wann warst du am Tiefpunkt deines Lebens?

Ich würde sagen 2007, als meine Tochter an Epilepsie erkrankte. Da brach für mich eine Welt zusammen. Ich war als Mutter völlig hilflos und wurde kaum unterstützt.

Wie war es dazu gekommen?

Das ist eine lange Geschichte. Meine Tochter ist mit einem Geburtsgebrechen zur Welt gekommen. Dazu kam ein Unfall, als sie drei Wochen alt war. Ich rutschte auf der Treppe aus und stürzte mit ihr zwei Meter in die Tiefe. Sie wäre fast gestorben. Die ersten Epilepsieanfälle hatte sie, als sie fünf war. Im Jahr 2007 musste ich sie in die Epilepsieklinik in Zürich geben, da die Anzahl Anfälle stark zugenommen hatten – bis zu zehn am Tag ! Leider reagierte sie nicht mehr auf Medikamente. Ich bereitete sie ein Jahr lang auf eine Operation vor, und 2008 wurde sie operiert.

Wurde sie geheilt?

Sie ist heute frei von Anfällen und muss keine Medikamente nehmen. Die Operation hinterliess aber Schäden. Sie hat das rechte Blickfeld verloren und kann deshalb zum Beispiel nicht Auto fahren. Sie hat sich aber prächtig erholt, macht heute eine Lehre und steht voll im Leben!

Erzähl mir von deiner Familie. Hast du Geschwister ?

Von zwei Halbschwestern weiss ich. Möglicherweise gibt es noch zwei weitere … Meine leibliche Mutter brachte mich zur Welt, als sie zwanzig war. Sie kam damals … (kämpft mit Tränen) in eine Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche und kehrte mit mir in den Armen zurück. Dann lebte sie bei ihren Eltern in Neuenburg und kümmerte sich um mich, wenn sie nicht arbeitete. Ich hatte damals eine enge Beziehung zu meinen Grosseltern. Meine Grossmutter wurde für mich zur Mutter und blieb es bis zu ihrem Tod.

Weisst du, wer dein leiblicher Vater ist?

Nicht mit Sicherheit. Meine Mutter stellte mir einmal jemanden als meinen Vater vor. Ich weiss aber nicht, ob er es wirklich war.

Möchtest du herausfinden, wer dein Vater ist?

Das ist zurzeit ein Thema in meiner Therapie. Mir fehlte eine Vaterfigur.

War dein Grossvater nicht präsent?

Aufgrund der psychischen Krankheit meiner Grossmutter war mein Grossvater nicht gern zuhause. Ich habe aber wunderschöne Erinnerungen an ihn.

Woran litt deine Grossmutter?

An Schizophrenie. Mein Grossvater war Trinker. Meine leibliche Mutter auch. Ab sechs lebte ich in einem Heim, mit acht Jahren kam ich zu einer Pflegefamilie. Dort lebte ich, bis ich einundzwanzig war.

Sahst du deine leibliche Mutter noch gelegentlich?

Nein. Nach dem Tod meines Grossvaters sah ich sie zum ersten Mal wieder, da war ich vierzehn. Mit zweiundzwanzig Jahren versuchte ich, meine drei Jahre jüngere Halbschwester zu finden, und traf dann auch meine leibliche Mutter wieder. Es war aber leider nicht möglich, mit meiner Halbschwester in Kontakt zu treten. Sie lebte wie ich für kurze Zeit bei meinen Grosseltern und wurde dann auf einen Eingriff des Sozialdienstes hin entfernt. Wir wurden beide zur Adoption freigegeben. Meine Halbschwester wurde von einer Familie adoptiert. Die Familie hätte eigentlich auch mich adoptieren sollen. Das ging aber nicht. So kehrte ich zu den Grosseltern zurück.

Hatte deine Pflegefamilie selbst Kinder?

Sie hatten eine Tochter, die im gleichen Alter wie ich war.

War deine Pflegefamilie gesund?

Sie war übergesund (lacht). Ihr ganzes Leben bestand aus Sport.

Waren die Beziehungen gesund?

Im weitesten Sinn ja. Wir erhielten Zuneigung und Unterstützung. Allerdings mussten wir dafür kämpfen und etwas leisten. Meine Schwester und ich wurden zum Sport angetrieben. Ich verbrachte mindestens zwölf Stunden pro Woche in der Turnhalle, turnte an den Geräten und kam weit. Ich wurde die jüngste Wettkampfrichterin. Meine Pflegemutter war Turnleiterin, mein Pflegevater war Präsident des Turnvereins. Es war eine Sportlerfamilie. Ich hätte lieber Tennis gespielt.

Welche Werte hielt deine Pflegefamilie hoch?

Anstand, Respekt und Hilfsbereitschaft. Meine Pflegemutter gab weiter, was sie selbst als Kind erhalten hatte. Sie war das älteste von neun Kindern gewesen und hatte früh Verantwortung übernommen. Sie konnte meiner Schwester und mir keine bedingungslose Liebe geben, weil sie diese selbst nicht erfahren hatte. Mein Pflegevater war ganz anders, ein sehr liebevoller Mensch. Doch hatte sie das Sagen. Es hiess: Wenn du etwas willst, dann musst du kämpfen.

Hatte diese Erziehung auch etwas Gutes?

Sie trug sicherlich dazu bei, dass ich zu dem Menschen geworden bin, der ich bin. Dass ich mich in meinem schwierigen Leben durchsetzen konnte und Ziele erreichte. Ich lernte, dass ich mich einsetzen musste, wenn ich etwas erreichen wollte.

Konntest du bei der Pflegefamilie deine schwierige Kindheit vergessen?

Nie. Ich lebte immer zwischen zwei Welten. Ich besuchte regelmässig meine Grossmutter und hatte eine enge Beziehung zu meiner Tante, einer Halbschwester meiner Mutter, die zehn Jahre älter ist als ich.

War deine Vergangenheit eine Last ?

Meine Vergangenheit war immer eine Last. Ich habe erst vor kurzem gelernt, mich davon zu befreien.

Unterhältst du heute noch Kontakt zu deinen Pflegeeltern? Nein.

Warum?

Weil das natürliche Geben und Nehmen zwischen uns nicht funktionierte. Als meine Tochter zur Welt kam, hatten wir noch Kontakt; auch nach dem Unfall mit meiner Tochter. Meine Pflegemutter war die einzige Person, mit der ich sachlich und vernünftig reden konnte.

Trotzdem hast du keinen Kontakt mehr zu ihr?

Es war immer dasselbe: Wenn ich nicht zu ihr ging, dann kam sie nicht zu mir. Ich war es, die zu ihr reisen sollte.

Gab es einen bestimmten Anlass, dass du den Kontakt zu deinen Pflegeeltern abgebrochen hast?

Ja, die Krankheit meiner Schwester. Ihr leibliches Kind wurde mit achtzehn magersüchtig. Dafür gab ich meiner Pflegemutter die Schuld. Das passte ihr nicht … Ich war rebellisch geworden und keine einfache Person. Ich hatte nie eine herzliche Beziehung zu meiner Pflegemutter.

Empfindest du Dankbarkeit für deine Pflegefamilie?

Ich empfinde keine Dankbarkeit. Sie wurden vom Staat dafür bezahlt (kämpft mit Tränen).

Sie haben mir viel gegeben, aber zu wenig Liebe.

Wie erlebtest du die Schulzeit? Ich ging gern zur Schule und war für lange Zeit eine gute Schülerin. Das änderte sich schlagartig nach einem Schulwechsel. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr und liess alles schlittern.

Warum?

Ich war es leid, das perfekte Mädchen zu sein und alles nach Vorschrift und Mass zu machen.

War das Rebellion? Erschöpfung?Das Gefühl, nicht du selbst zu sein?

Ich war nie ich selbst. Ich spielte mein Leben lang eine Rolle und passte mich den Situationen an. Damals verlor ich den geschützten Raum, in dem ich mich wohl fühlte. Ich hätte die letzte Klasse wiederholen müssen und lernte stattdessen Schneiderin. Eigentlich wollte ich Anwältin werden …

Was hätte dich daran gereizt?

Ich hätte gern Gerechtigkeit für Kinder hergestellt. In der Lehre strengte ich mich dennoch an und wurde die Drittbeste im Kanton.

Bedeuten dir die Religion oder die Kirche etwas?

Ich bin reformiert getauft. Wenn ich an die Kirche denke, dann fallen mir der Papst und die Glaubenskriege ein, all das Leid in der Welt … Das macht mich traurig. Für den Glauben brauche ich keine Kirche, keinen Gott und auch nicht Jesus. Ich bete nicht unbedingt, gehe aber ab und zu mit meiner Tante in die Kirche. Sie brachte mich übrigens mit dem Blauen Kreuz in Kontakt. Sie und ihre Familie sind sehr gläubig, sie lesen täglich in der Bibel und beten. Das stört mich gar nicht … (Hält längere Zeit die Luft an.) Irgendwie habe ich schon einen Glauben. In der Vorbereitungszeit meiner Konfirmation ging ich viel in die Kirche. Dann wieder, als meine Tochter sehr krank war und nach meiner Trennung.

Was zog dich an?

Die Ruhe; einfach nur zu sein. Inzwischen gehe ich mit meiner Tante gelegentlich zu einem Mittagstisch, der von der Kirche organisiert wird. Ich bin gern unter Gläubigen, allerdings ohne über Gott zu reden. Meine Tante und ihr Mann respektieren das. Ich bewundere das Engagement der Kirche, etwa für Kinder oder Notdürftige.

Welcher Gott begegnet dir?

Einer, der Trost und Kraft spendet. Letztes Jahr verlor ich meinen neuen Freund. Ich zündete jeden Tag eine Kerze an und bat Gott um Kraft. In dieser schwierigen Zeit ging ich ab und zu in die Kirche. Mich zieht es mehr zu Gott, wenn es mir nicht gut geht, als wenn es mir gut geht. Seit ich keinen Alkohol mehr trinke, ist die Dankbarkeit für mich wichtig geworden. Ich erkenne heute die Bedeutung dieses Wortes. Ich brauche die Dankbarkeit und bin wieder in der Lage, sie zu empfinden.

Wie verbrachtest du als Jugendliche die Freizeit?

Ich tanzte gern und hörte Musik – für viel mehr hatte ich keine Zeit. Bis ich 25 Jahre alt war, ging ich häufig tanzen.

Hattest du enge Freundschaften?

Nach der Trennung von meinem Mann verbrachte ich viel Zeit mit einer Freundin, die ich durch ihn kennengelernt hatte. Sie trennte sich kurz nach mir von ihrem Mann. Unsere Freundschaft löste sich auf, nachdem sie einen neuen Mann kennengelernt hatte. Ich kann aber weiter auf sie zählen. Ich habe wenige, aber echte und wertvolle Freundschaften.

Wie lerntest du deinen Mann kennen?

Ich war 25, hatte längere Zeit als Barmaid gearbeitet und führte ein wildes Leben. Dann nahm ich eine Auszeit und lebte eine Zeit lang bei meiner Tante in der Deutschschweiz. Am 1. August wurde ich zu einem privaten Fest eingeladen. Dort lernte ich meinen Mann kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick … Wir lebten dreizehn Jahre zusammen. Nachdem ich schwanger geworden war, heirateten wir. Wir bekamen eine Tochter.

Warum habt ihr euch getrennt?

Mein Mann warf mich aus der Wohnung, weil ich Geld veruntreut und übermässig Alkohol getrunken und Kokain genommen hatte. Nach einer ersten Therapie, in der er mich unterstützt hatte, fing ich wieder an zu trinken und wurde wegen Suizidgefahr in die Psychiatrische Klinik Waldau eingeliefert. Da packte er meine Sachen in der Wohnung zusammen und schickte sie in die Klinik.  So trennte er sich von mir.

Warum hat er das getan?

Er hatte angekündigt, wenn ich wieder mit Trinken anfange, werde er sich von mir trennen. Das hat er dann getan.

Hattest du diese Konsequenz erwartet?

Ja. Das Kokain nahm ich, um nach dem Alkohol funktionieren zu können. Den Alkohol nahm ich, um zu vergessen. Wegen dem Kokain machte ich grosse Schulden und plünderte das Konto meiner Tochter. Das ist heftig … Ich bin nicht stolz darauf, aber so war es halt. Ich kann es nicht ungeschehen machen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten verstand ich mich mit meinem Exmann wieder gut. Wir wollten auf keinen Fall, dass unsere Tochter unter der Trennung leiden würde. Meine Tochter hat mir zum Glück verziehen.

Hofftest du, dass du und dein Mann wieder zusammenfinden würden?

Ja, lang. Nach einem Jahr hatte mein Exmann allerdings eine neue Lebensgefährtin.

Mit 15 Jahren lerntest du Schneiderin.Warum diese Wahl?

Aus Not. Da ich das letzte Schuljahr nicht bestanden hatte, musste ich eine Lehre machen. Ich nähte gern und dachte, vielleicht könnte ich nach der Lehre Mode studieren und Designerin werden.

Gefiel dir die Lehre?

Ja. Heute vermisse ich das Schneidern, aber man kann davon kaum leben. Um mehr zu verdienen, wurde ich Modeverkäuferin. Ich mag den Kontakt zu den Kunden und arbeitete mich zur Geschäftsführerin hoch, später zur Filialleiterin. Im Februar 2017 verlor ich wegen meinem Alkoholkonsum die Stelle. Seit dem 17. August 2017 bin ich trocken – es sind jetzt über 1000 Tage!

Warum hast du nicht wieder einen Laden übernommen?

Weil ich diese Verantwortung nicht mehr tragen will. Der Zahlendruck ist enorm. Restaurants und gewisse Geschäfte kommen wegen des Alkoholverkaufs für mich nicht in Frage. Ich könnte mir vorstellen, in einer Betriebskantine zu arbeiten. Ich wünsche mir eine neue Herausforderung mit menschlichen Kontakten.

Was trieb dich als Filialleiterin zum Alkohol? Stress ?

Nein, Unzufriedenheit. Ich trank kontrolliert, das heisst, ich trank nur, wenn ich am nächsten Tag nicht arbeiten musste. Es kam aber zu Abstürzen.

Glaubst du, dass kontrolliertes Trinken nach einer Alkoholgeschichte möglich ist?

Eindeutig nein ! Ich werde es nie mehr versuchen. Zum Glück habe ich keine Lust auf Alkohol; den Suchtdruck kenne ich nicht.

Was brachte dich beim ersten Mal zum übermässigen Trinken?

Gefühle, die mich überwältigten.

Wann hast du gemerkt, dass du mit Alkohol ein Problem hast?

Als ich mit 23 Jahren aufhörte, als Barmaid zu arbeiten. Eines Nachts merkte ich, dass ich nicht einschlafen konnte. Ich fuhr wieder in die Stadt und trank drei Gin Tonics, um herunterzufahren und den Schlaf zu finden. So fing es an.

Woran merktest du, dass du zu viel getrunken hattest?

An den Blackouts. Wenn du nachts daheim aufwachst und dich nicht erinnern kannst, wie du nach Hause gekommen bist, dann merkst du, dass etwas nicht stimmt. Ich wusste: So kann es nicht weitergehen.

Was war das Angenehme am Alkoholkonsum?

Das Vergessen. Das Sich-Betäuben. Den seelischen Schmerz zu lindern.

Was wolltest du vergessen?

Meine Gefühle. Die Schuldgefühle gegenüber meiner Tochter, da ich getrunken hatte. Ich kam nicht mehr klar mit meinem Leben, konnte nicht mehr mit meinen Gefühlen umgehen und verdrängte die Probleme.

Wie sah damals ein typischer Tagesablauf aus?

Mein Mann ging zur Arbeit. Ich weckte meine Tochter, trank ein Bier, bereitete der Tochter ein Frühstück und brachte sie zur Schule. Dann kehrte ich nach Hause zurück und trank ein zweites Bier oder etwas Stärkeres. Wenn mein Mann den Alkohol in unserer Wohnung versteckte, holte ich im Keller Schnaps. Um elf Uhr war ich zu. Ich raffte mich auf, bereitete ein Mittagessen für meine Tochter zu …

Merkte sie, dass etwas nicht stimmte?

Ja. Sie ging häufig zu ihren Grosseltern zu Mittag essen. Nachmittags verliess ich das Haus, um Kokain zu organisieren, und putschte mich auf, um nach der Schule für meine Tochter präsent zu sein. Abends kam mein Mann von der Arbeit zurück, wir schliefen häufig beide auf der Couch ein. Am nächsten Tag fing alles wieder von vorn an.

Was waren die wichtigsten Stationen deiner Alkoholerkrankung?

Mit 23 Jahren stellte ich fest, dass ich ohne Alkohol nicht mehr schlafen konnte. Dann lebte ich einige Jahre normal. Der Konsum stieg an, als ich realisierte, dass die Epilepsie meiner Tochter nicht mit Medikamenten in den Griff zu bekommen war. Nach ihrer Operation machte ich eine erste Therapie in der Klinik Südhang. Dann kam der Rückfall, die Trennung von meinem Mann, die Einlieferung in die Klinik Waldau und sechs Monate im Südhang. Ich trat eine Stelle im Verkauf an, fing wieder zu trinken an und verlor die Stelle. Ich fasste mich wieder und trat eine neue Stelle als Filialleiterin an, die ich wegen meinem Alkoholkonsum abermals verlor. In der dritten Therapie wurde mir klar, dass ich krank war. Das half mir.

Was an der Erkenntnis, krank zu sein, half dir?

Dass ich mich nicht zu schämen brauchte. Für eine Krankheit braucht man sich nicht zu schämen. Eine Krankheit ist allgemein anerkannt. Es gibt Lösungen zur Heilung. Der Alkoholismus ist eine tödliche Krankheit. Mir wurde klar: Ich will leben. Hinzu kam mein Wille. Die erste Therapie machte ich wegen meines Mannes, die zweite nach der Trennung, um meine Tochter nicht zu verlieren. Erst die dritte wollte ich von mir aus. Mein Wille war entscheidend und die Einsicht, eine Krankheit zu haben, mit der ich leben kann, solange ich die Finger vom Alkohol lasse.

Besteht die Krankheit unabhängig davon, ob du trinkst?

Ja. Ich lebe mit dieser Krankheit. Das Zweite ist die Regulierung meiner Gefühle. Daran arbeitete ich intensiv in einer Therapie.

Was hast du dort gelernt?

Heute kann ich meinen Problemen ins Auge schauen, sie in Angriff nehmen und Lösungen finden. Ich habe die Freude wiedererlernt, die Achtsamkeit, die Dankbarkeit und das gesündere Leben. Ich habe viel Gutes gewonnen und lasse mich nicht mehr so leicht stressen.

Wo liegt der Grund für diese Freude?

In der Arbeit an mir und der Liebe zu mir selbst, die übrigens eine Lebensaufgabe ist. Ich hatte mich nicht mehr geliebt. Ich habe mich nie wirklich geliebt, sondern Anerkennung für meine Leistungen gesucht. Heute bin ich stolz auf das, was ich geleistet habe

Was trägt dich heute im Leben?

Die Zufriedenheit. Zu sehen, dass ich nicht trinke. Die bestärkenden Rückmeldungen aus meiner Umgebung. Und die neue Beziehung zu meiner Tochter.

Warum führst du die Therapie heute fort?

Ich will meine verschiedenen Ichs verstehen. Es gibt vier davon, drei aus dem Erwachsenenleben und eines aus der Kindheit. Ich will mit allen Ichs einigermassen in Einklang sein und mit meiner Vergangenheit abschliessen.

Was braucht es, damit du die Therapie abschliessen kannst?

Ich glaube, wenn ich Frieden mit meiner Vergangenheit gemacht habe, wird es gut sein. Ich muss heute niemandem etwas verzeihen, sondern ich muss Frieden schliessen.

Wie geht es dir heute ohne Alkohol?

Besser denn je. Es ist nicht immer einfach, «dranzubleiben», aber notwendig. Ohne Alkohol und andere Suchtmittel lebe ich wirklich wieder. Ich kann vieles wieder geniessen und mich an kleinen Dingen erfreuen. Ich bin in meinem Leben angekommen. Der Weg hat sich gelohnt!

Quelle:

Interview, 1. Teil: Blaues Kreuz 2/2020

Interview, 2. Teil: Blaues Kreuz 3/2020