Berühmte Nichttrinker: Christine Lagarde

Sie ist eine der mächtigsten Frauen der Welt. Im Jahr 2009 wurde sie zum besten Finanzminister des Euroraums erklärt. Und sie trinkt keinen Alkohol: Christine Lagarde.

Christine Lagarde kam am 1. Januar 1956 als Tochter eines Lehrers und einer Lehrerin in Paris zur Welt und wuchs in Le Havre in der Normandie auf. Ihr Vater starb, als sie sechzehn Jahre alt war. Fortan arbeitete sie neben der Schule als Jeansverkäuferin und auf dem Fischmarkt. Mit achtzehn absolvierte sie ein Austauschjahr in den USA und studierte anschliessend in Frankreich Jura.

Mit dem Abschluss in der Tasche begann sie ihre Karriere bei der US-Anwaltskanzlei Baker & McKenzie, einer der grössten Wirtschaftskanzleien der Welt. Die auf Arbeitsrecht, Wettbewerbsrecht und Fusionen spezialisierte Juristin schaffte es dort bis an die Konzernspitze. Als erste Frau leitete sie ab 1999 das amerikanische Unternehmen. 2005 wurde sie unter Jacques Chirac beigeordnete Ministerin für Aussenhandel, 2007 übernahm sie das Finanz- und Wirtschaftsministerium und wurde so die erste Finanzministerin eines G7-Landes. Unter Präsident Sarkozy machte sie sich einen Namen als Krisenmanagerin während der Weltfinanzkrise und bei der Rettung des von der Staatspleite bedrohten Griechenlands. Von 2011 bis 2019 brillierte sie als geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds. Erst vor wenigen Monaten, im November 2019, übernahm Lagarde, Mutter von zwei erwachsenen Söhnen, das Präsidium der Europäischen Zentralbank (EZB).

Inbegriff einer Führungskraft

Christine Lagarde ist weniger Notenbankerin als vielmehr Managerin, die das grosse Ganze im Blick hat. Ihr Wechsel zur EZB als Nicht-Ökonomin löste denn auch einige Kritik aus. Aber Lagarde verfügt über ein gesundes Selbstvertrauen: «Wir alle werden gerne gemocht. Kritisiert zu werden, ist immer schwer. Man akzeptiert die Kritik oder man ändert etwas, wenn sie berechtigt ist. Oder aber man ignoriert sie, wenn sie völlig willkürlich, leichtsinnig oder hasserfüllt ist. Dann geht man weiter.» Man sagt Lagarde die Fähigkeit nach, Menschen für sich zu gewinnen und Kompromisse zu schmieden, mit denen alle leben können. Dies gelinge ihr dank ihrer herzlichen und einnehmenden Art. Woher stammen diese Führungskompetenzen? «Meine Mutter war entschlossen, mein – wie sie es nannte – natürliches Gefühl der Unabhängigkeit und der Autorität zu fördern. Ich war das älteste Kind unter vier Geschwistern. Schon als ich vier oder fünf Jahre alt war, sorgte ich für meine drei Brüder. Diese Befähigung in jungen Jahren hat mir sicher geholfen.»

«Immer wenn es irgendwo schlecht läuft, holt man Frauen an Bord»

Ob in der französischen Regierung, beim Währungsfonds oder bei der EZB, Lagarde war in jeder dieser Positionen die erste Frau. «Immer, wenn es irgendwo schlecht läuft, holt man Frauen an Bord», witzelte sie jüngst in einem Interview. Seit Jahren setzt sie sich für die Gleichberechtigung der Frauen ein und gilt vielen als Vorbild. Sie erzählt gerne, wie sie nach ihrem Studium in Paris zu einem Bewerbungsgespräch in einer Kanzlei eingeladen war. Dort teilte man ihr mit, sie könne anfangen, aber ganz nach oben werde sie es nie schaffen – weil sie eine Frau sei. Zwanzig Jahre später war sie Chefin einer internationalen Wirtschaftsanwaltskanzlei und führte 3400 Mitarbeiter. Sie wird zu vielen TV-Shows und Tagungen als Referentin über die Rolle der Frau in der Wirtschaft eingeladen. Am Internationalen Frauentag 2018 war sie bei der US-Tageszeitung «Washington Post» zu Gast und meinte: «Damit in Unternehmungen gute Entscheidungen getroffen werden können, muss es ein gewisses Mass an Vielfalt geben. Vielfalt ist entscheidend für eine bessere Leistung und bessere Ergebnisse.»

Disziplin

Um als Topmanagerin zu bestehen, braucht es Disziplin. Lagarde beginnt ihren Tag morgens um fünf mit einer Tasse Tee. Um sechs folgen zwanzig Minuten Yoga, dann die Arbeit, oft mit langen Abenden. Wie sie das alles schafft? Mit Disziplin, antwortet sie. Keinen Alkohol, keine Zigaretten, eine ausgeglichene Ernährung und viel Bewegung. Ihre einzige Schwäche sind M&Ms, die sie an Sitzungen gern mit anderen teilt – zur Entspannung und zur Stärkung des Gruppengefühls.

Christine Lagarde ist in einem kleinbürgerlichen, linkskatholischen Milieu aufgewachsen. Ihre Biografin Marie Visot schreibt: «Die beiden Sätze, die sie in ihrer Jugend am häufigsten hörte, waren die Worte ihres Vaters: ‹Du hast keine Rechte, sondern nur Pflichten›, und die ihrer Mutter: ‹Schliess ab, was du angefangen hast.›» In den USA wurde Lagarde zur Liberalen und schätzte an ihrem Gastland den Optimismus, die Tatkraft und die Zuversicht. Ihrer christlichen Erziehung blieb sie treu. Visot: «Während ihres Austauschjahres las sie regelmässig die Evangelien. Sie hat immer das Gefühl, dass sie es mit Menschen zu tun hat, nicht mit Nummern.» Eine weitere Quelle für ihre Disziplin ist der Sport. Lagarde gehörte in ihrer Jugend der französischen Nationalmannschaft der Synchronschwimmer an und gewann bei den französischen Meisterschaften eine Bronzemedaille. Es ist Christine Lagardes positive Einstellung, die ihr täglich Kraft gibt. In einem Interview sagte sie: «Es gibt nicht viele Tage, an denen ich aufstehe und nicht denke, dass das Leben schön ist. Es ist voller harter Momente, Trauer, Schmerz und Frustrationen. Aber ich denke trotz allem, dass es schön ist. Dies könnte in meiner Erziehung, meinem Glauben, meinem natürlichen Optimismus begründet sein.»

Quelle: „Blaues Kreuz“ 1/2020