Mässigkeitsbewegungen: Wahrnehmung und Bewertung des Alkohols im Wandel des Zeitgeists

«Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, ist morgen verwitwet». Schopenhauers bissige Bemerkung hätte auch auf die empirische Alkoholforschung gemünzt sein können. Ihre Fragestellungen und somit auch ihre Resultate basieren auf ethischen und anderen soziokulturellen Vorgaben, die selbstredend weder unumstritten noch konstant sind. Dies zeigt die Geschichte der Strukturen und Zyklen des Alkoholwissens, bei dem sich hedonistische und asketische Phasen abwechselten.

Von Hasso Spode [1]

Seit Urzeiten dienten vergorene Getränke den Menschen als Nahrungs- und Stärkungs- mittel im Alltag und als Rauschmittel am Festtag. Das exzessive Trinken war nur im Kollektiv denkbar; niemand betrank sich alleine. Dabei stellten eherne Regeln sicher, dass beim Gelage alle gleich viel in sich hineinschütteten: Es herrschte strikter Trinkzwang. Der Rausch riss die Schranken des Ich nieder, vereinte die Zecher in magischem Taumel. In einer fundamental unsicheren Welt war dieses Zusammenschweissen der Wir-Gruppe durchaus funktional. Doch das archaische Gelage war eine höchst ambivalente Praxis. Urplötzlich konnte Streit ausbrechen, Mord und Totschlag drohten. Es wurde daher bisweilen auch kritisch gesehen, etwa von Karl dem Grossen. Die erste Mässigkeitskampagne der Weltgeschichte verdankte sich der Reformation: Wortgewaltig zog Luther gegen den «Saufteufel» zu Felde, womit nicht der nach heutigen Massstäben enorme Konsum von Bier und Wein im Alltag gemeint war, sondern die alt-ehrwürdige Sitte des kollektiven Exzesses. Die Kampagne scheiterte, doch langfristig hinterliess die Reformation bekanntlich tiefe Spuren im Denken und Verhalten der Menschen – auch in deren Trinkverhalten.

Grundlagen des modernen Alkoholwissens

Selbstdisziplin, Fleiss, Sparsamkeit und das Denken in langen Zeithorizonten wurden die Kardinaltugenden der Neuzeit. Die «Rationalisierung des Lebensstils» (Max Weber) tangierte anfangs nur kleine Teile von Adel, Klerus und vor allem von Bürgern. Doch im 18. Jahrhundert, am Beginn der Moderne, versuchten Obrigkeiten und Volkserzieher allen Untertanen eine «vernünftige» Lebensführung aufzuprägen. Während sich die «medicinische Policey» um die Masse der unterständischen Schichten kümmerte, forcierte man in den oberen Schichten die Selbstoptimierung. Dazu zählte nicht zuletzt die Aufhebung des Trinkzwangs an der Tafel; jeder und jede durfte sich selbst nach seinem Belieben einschenken. Die Institution des archaischen Gelages löste sich auf, wurde – ironisch übersteigert – in Enklaven wie zum Beispiel das studentische «Kommerstrinken» abgeschoben. Zugleich wurde dank der einsetzenden Globalisierung die Herrschaft der alkoholischen Getränke gebrochen: Die Kolonialwaren Kaffee, Tee und Tabak sorgten für «nüchterne Räusche».

Keineswegs war der Trinkexzess damit abgeschafft. Doch er wurde individualisiert, «hinter Kulissen» (Norbert Elias) verlegt, verheimlicht. War der kollektive Trinkexzess der Vormoderne eine Pflichtveranstaltung in der sozialen Welt, so wird nun die Flucht aus dieser Welt angetreten. Die Kritik am Trinken konnte daher viel mehr Durchschlagskraft entwickeln als in der Vormoderne. Dies auch, weil in diesem Kontext eine neuartige Klassifizierung der dabei verwendeten Substanzen aufkam: Waren Bier, Wein und der zunehmend populäre Branntwein bislang unentbehrliche Nahrungs- und Stärkungsmittel, so wurden sie nun zu blossen Genussmitteln herabgestuft.

Damit waren die Grundlagen des modernen Umgangs mit Alkohol gelegt. Genussmittel sind potenziell entbehrlich. Heute zählen alkoholische Getränke zwar rechtlich noch zu den Lebensmitteln, sind aber in Deutschland, im Gegensatz zur Schweiz, bereits aus dem «Grundbedarf» für Sozialhilfeempfänger gestrichen. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte sich die heute selbstverständliche Auffassung durch, dass die so grundverschiedenen alkoholischen Getränke eine grosse Gemeinsamkeit haben: den Alkohol. Freilich wurden sie noch lange sehr unterschiedlich bewertet. Um 1800 war es zunächst der Schnaps, dessen Status als ein gesundes Stärkungsmittel, das man selbst Gefängnisinsassen nicht vorenthielt, ins Wanken geriet. Von einigen Medizinern wie etwa dem berühmten Christoph Willhelm Hufeland wurde er stattdessen als ein «künstliches Gift» qualifiziert, das eine neuartige Nervenkrankheit hervorrufe: die «Trunksucht». Der Staat müsse gegen diese «Branntweinseuche» einschreiten. Nach einiger Zeit ebbte die erbitterte medizinische Kontroverse ab und die Suchttheorie geriet in Vergessenheit. Doch das Image des Branntweins war angeschlagen. Fortan kam es bislang zu drei Wellen der Skandalisierung des Alkoholkonsums, wobei sich asketisch-restriktive Phasen und hedonistisch-permissive jeweils abwechselten.

Welle Nr. 1

Sieht man von der Kampagne gegen den «Saufteufel» (und dem englischen Sonderfall der «Gin-Manie» Mitte des 18. Jahrhunderts) ab, fällt die erste massive Skandalisierungsphase in die Zeit der Bauernbefreiung und der aufkommenden Industrialisierung. Anders als bei den beiden späteren Wellen ging ihr ein Anstieg des Alkoholverbrauchs voraus: Der Schnaps trat zunehmend an die Stelle von Bier und Wein. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts liessen effektive Produktionsverfahren wie der «Hentze-Dämpfer» und der Einsatz der billigen Kartoffel als Rohstoff die Branntweinpreise fallen. Das respektable Stärkungsmittel der Bürger und Seeleute wurde in Gestalt wohlfeilen Fusels zum Alltagsgetränk in den entwurzelten Unterschichten. Hier traf der konzentrierte Alkohol auf unterernährte Körper, diente als Kalorienlieferant und zerstörte dabei die traditionelle Trinkkultur. «Der Charakter des Rausches hatte sich total verändert», notierte Friedrich Engels und sah die Schuld daran am aufkommenden Kapitalismus.

Religiöse Reformer hingegen machten nun umgekehrt den Branntwein für das Massenelend der Frühindustrialisierung verantwortlich. Ausgehend von den englischsprachigen Ländern und angeführt von Geistlichen – in Deutschland zumal vom Pfarrer Johann Heinrich Böttcher – erblühte eine breite Mässigkeits- bzw. Temperenzbewegung, die sich die Abschaffung des Branntweins, mancherorts sogar sämtlicher Alkoholika auf die Fahne geschrieben hatte. 1847 gab es allein in Deutschland über tausend Mässigkeitsvereine mit 600 000 Mitgliedern, die feierlich geschworen hatten, nie wieder Branntwein zu trinken.

Doch dann, in der 1848er Revolution, brach diese Bewegung so schnell zusammen, wie sie entstanden war. Die Menschen kehrten zum Schnaps zurück, der Verbrauch erreichte bald wieder die alten Höhen – aber daran störte sich fast niemand mehr. Allerdings galt der Branntwein nun endgültig als ein potenziell gefährlicher Stoff (wenngleich daneben sein altes Image als Stärkungsmittel in manchen Milieus und Regionen fortlebte und die britische Marine die tägliche Rumration erst 1970 abschaffte).

Welle Nr. 2: Die «Alkoholfrage» entsteht

Eine Generation verging, dann wurde der Alkohol erneut ein grosses Thema, und zwar ohne dass der Konsum gestiegen wäre. Ab dem späten 19. Jahrhundert erhitzte die «Alkoholfrage» jahrzehntelang die Gemüter. Die Hauptakteure dieser zweiten Mässigkeitsbewegung waren nicht mehr Kirchenleute, sondern Mediziner und andere Wissenschaftler. In Europa führend war hierbei zunächst der 1883 gegründete Deutsche Verein gegen Mißbrauch geistiger Getränke (DVMG). Ausgangspunkt seiner Aktivitäten waren die Arbeitsprozesse in den neuen Fabriken gewesen. Die Bedienung einer komplexen Maschinerie verlangte nüchterne Operateure (und so waren Lokomotivführer die ersten, für die Punktnüchternheit galt). Mehr und mehr prägte die Hochindustrialisierung auch den Arbeitern die bürgerliche Leistungsethik auf.

Es blieb nicht bei einer Ernüchterung des Arbeitslebens. Neben den betrieblich-wirtschaftlichen traten erneut die sozialen und medizinischen Folgeschäden starken Trinkens – wie das wiederentdeckte Phänomen der Trunksucht, das vereinzelt auch 'Alkoholismus' genannt wurde – in den Blick, von Aufruhr und häuslicher Gewalt bis zu Leberzirrhose und Alkoholdelir. Zur Lösung der «Alkoholfrage» wurde ein Bündel von Massnahmen vorgeschlagen und zunehmend auch umgesetzt, das grosso modo bis heute das ABC der Alkoholpolitik bildet, allerdings zunächst auf Spirituosen beschränkt war. Im Vordergrund standen Aufklärungskampagnen, Steuererhöhungen und eine restriktive Schanklizenzierung; hinzu kam in manchen Ländern eine staatliche Kontingentierung der Produktion. Voran ging hierbei die Schweiz. 1887 wurde ein Branntweinmonopol aus der Taufe gehoben, die Eidgenössische Alkoholverwaltung. 'Alkohol' meinte hier lediglich Spirituosen (ein Sprachgebrauch, der sich vereinzelt bis heute findet). Treibende Kraft war der Statistiker Edmund Willhelm Milliet, der programmatisch mit dem DVMG konform ging. Ein Hauptziel der Mässigkeitsbewegung war der Umstieg von den hochprozentigen destillierten Getränken auf vergorene, und dieses Ziel wurde vielfach auch erreicht; im deutschen Kaiserreich halbierte sich der Schnapskonsum. Ähnlich wohl in der Schweiz; hier wurde zudem (wie zuvor in Belgien und später fast allen industrialisierten Ländern) 1908/10 der Absinth verboten, da dieser Kräuterschnaps eine spezifische Geisteskrankheit, den «Absinthismus», hervorrufe. Milliet hatte das – zurecht – für Unsinn gehalten und befürchtete – ebenfalls zurecht – ein massives Anwachsen der Schwarzbrennerei.

Doch der Wirbel um die «Grüne Fee» war nur ein Nebenschauplatz im Kampf gegen den Alkohol. Keineswegs wurde dieses Wort in der Wissenschaft nur für Spirituosen verwendet. Auch Wein und Bier enthalten schliesslich Ethanol. Kaum erzielte die Mässigkeitsbewegung erste Erfolge, spaltete sie sich in einen gemässigten und einen radikalen Flügel: in «Mässige» und «Abstinente» oder wie es in Amerika hiess: in «Wet» und «Dry». Sie wurden erbitterte Feinde. Der Konflikt erreichte 1903 auf dem Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus (heute: International Council on Alcohol and Addictions) in Bremen seinen Höhepunkt. Wüste Beschimpfungen gingen buchstäblich in Raufhändel über. Auslöser war eine vom DVMG herausgegebene Schrift, in der es hiess, mässiger Alkoholgenuss sei unschädlich – sie musste eingestampft werden.

Biologisierung der «Alkoholfrage»

Diese Spaltung ging von protestantisch-puritanisch geprägten «Temperenzkulturen» aus: Amerika, Skandinavien und Teilen der Schweiz. Der Basler Physiologe Gustav von Bunge gab 1886 die Kampfparole aus: «Die Verführer sind die Mässigen!» Global agierende Organisationen, voran die schon 1851 in den USA gegründeten Guttempler, sahen sich zunehmend als Speerspitze einer neuen, progressiven Wissenschaft: der Eugenik bzw. Rassenhygiene. Denn das gefährlichste «Rassengift» sei der Alkohol. Und die gefährlichste Konsumform sei die mässige: Während der exzessive Schnapstrinker dem biologischen Selektionsmechanismus («Alkoholausjäte») zum Opfer falle, verbreite der moderate Biertrinker sein alkoholgeschädigtes Erbgut im ganzen «Volkskörper» – es drohe die kollektive «Degeneration». Das «Alkoholkapital» opfere das Überleben der Menschheit dem Profitinteresse. Ein staatliches Verbot, wie es bereits in einigen US-Bundesstaaten galt, sei daher ein Akt der «Notwehr». Vormann der Abstinenten in Europa wurde der aus der Waadt stammende, in München habilitierte Psychiatrieprofessor und Ameisenforscher Auguste Forel. Als Direktor der Zürcher Irrenanstalt Burghölzli und Gründer der Trinkerheilstätte Ellikon bei Frauenfeld (heute Forel-Klinik) führte Forel 1887/8 die Totalabstinenz in die Therapie ein (während man bislang auf eine Reduzierung des Konsums zielte). Vor allem aber kämpfte der Sozialist, Frauenrechtler und Pazifist für «rassenhygienische Prävention». So experimentierte er schon früh mit Sterilisierungen: «Die Gescheiten, Tüchtigen und Kräftigen sollten sich energisch vermehren; die Schwachen, Elenden, Schlechten und Dummen dagegen gar nicht.» Die zentrale Primärprävention aber bilde die «Ausrottung» des Alkohols. Den Guttempler-Orden baute Forel in der Schweiz und anderen Ländern von einer belächelten Selbsthilfeorganisation von Trinkern zu einem Instrument der Abstinenzpropaganda mit zahlreichen Parallel- und Tarnorganisationen aus. In punkto Mitgliederzahlen und medialer Aufmerksamkeit hatten die «Abstinenten» die «Mässigen» weit überflügelt. 

Die rassenhygienischen Alkoholforscher sahen sich als Vorhut einer umfassenden Hygienisierung der Gesellschaft, um mit einem «gesunden Volkskörper» im Daseinskampf der Nationen bestehen zu können. Über fünf Millionen Besucher strömten 1911 in die Dresdener Internationale Hygiene-Ausstellung, auf der sich die moderne «Public Health» stolz präsentierte. Programmatisches Symbol der Schau war das allsehende Auge des Gesundheitsexperten. Die Eindämmung von Infektionskrankheiten hatte unstrittig Fortschritte gemacht, der Alkohol aber blieb höchst umstritten: Auch die Brauindustrie hatte in Dresden einen Pavillon, und der führende deutsche Sozialhygieniker Alfred Grotjahn stimmte zwar mit Forel überein, dass die Gesellschaft von «Kranken, Hässlichen und Minderwertigen» zu reinigen sei, hielt aber mässigen Alkoholkonsum dem Wohlbefinden und der Gesundheit zuträglich.

In der globalen Alkoholdiskussion wurde der «mässige Standpunkt» aber in die Defensive gedrängt. In Mitteleuropa blieben die «Wasserapostel» zwar eine Minderheit, aber ihrem missionarischen Elan und wissenschaftlichen Sachverstand, bewehrt mit zahllosen Statistiken, war wenig entgegen zu setzen: Wer wollte bestreiten, dass Darwins Gesetze der «Auslese» auch für die menschliche Spezies gelten und dass der Alkohol in diesem Selektionsprozess eine furchtbare Rolle spielt? Die wenigen Experten, die dieses Gedankengebäude in Frage stellten, wurden als Leugner in Diensten des «Braukapitals» angeklagt und aus der Zunft der «Alkohologen» ausgegrenzt; die vielen Laien, die ebenso dachten, hatten keine legitime Stimme mehr.

Triumph und Niedergang

Ein Wissenschaftsglaube war in die Welt gesetzt, die auf einer protestantischen Leistungsethik basierte. Wobei die Experten den Part der Priester übernommen hatten. Ihren Triumph erlebte sie nach dem Ersten Weltkrieg. Die Bewegung verlor zwar an Schwung und Mitgliedern, aber sie gewann an politischem und moralischem Einfluss. Knapp ein Dutzend Länder führte eine Alkoholprohibition ein, voran die neue Weltmacht USA. Aber auch in Ländern ohne ein staatliches Verbot wie in Deutschland und der Schweiz fiel der Verbrauch auf historische Tiefststände. Und fast die Hälfte der Staaten des Völkerbunds erliessen rassenhygienische Zwangsgesetze.

Doch im Triumph der Abstinenzbewegung war bereits der Keim ihres Untergangs angelegt. Mehr und mehr traten die nichtbeabsichtigten Negativfolgen konsequenter Primärprävention zu Tage (Stichwort «Al Capone»). 1933 hoben die USA die Prohibition auf. Nach dem Krieg wurden Whiskey und Zigaretten zu Symbolen des strahlenden «American Way of Life». Nach dem Motto «Wir sind noch einmal davon gekommen» wurde die Freiheit zum – auch ungesunden – Genuss hochgehalten. Unbeschwert wurde getrunken und gequalmt. Einzig die nordischen Länder hielten noch lange an prohibitiven Alkoholkontrollpolitiken fest und führten zudem bis in die 1970er Jahre Zwangssterilisierungen durch.

Welle Nr. 3

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts aber ging es auch mit dieser hedonistisch-permissiven Phase zu Ende. Mit den sinnenfrohen, sozialistisch gestimmten «68ern» erlebte sie ihren Höhepunkt, doch wenig später verflog der unbekümmerte Zukunftsoptimismus. In den 1970er Jahren verdüsterte sich der Horizont, der «Traum von der immerwährenden Prosperität» (Burkart Lutz) war ausgeträumt. Die soziale Sicherheit war verschwunden und der Glaube an den ordnenden Verteilungsstaat wich neoliberaler Markt- und Leistungsideologie, Vollbeschäftigung wich Arbeitslosigkeit, die Utopie des Atomzeitalters wich dem Schreckbild der Umweltzerstörung. Nicht Fortschritt, sondern Erhalt, nicht Freiheit, sondern Sicherheit wurden zu obersten Maximen – ein zutiefst konservatives Ideal, dass nun paradoxerweise als progressiv galt. Kein VW-Bus ohne den Aufkleber «Atomkraft – nein danke». Mittelfristig musste sich dieser Mentalitätswandel auch auf die Einstellung zu den Genussmitteln auswirken.

Eine dritte Mässigkeitsbewegung nahm ihren Lauf, in vieler Hinsicht eine Neuauflage der zweiten. Sie kam und kommt jedoch weithin ohne eine organisierte Massenbasis aus, wirkte und wirkt mehr im Stillen, sodass viele ihre Existenz allenfalls dann bemerken, wenn Werbeverbote oder Steuererhöhungen erlassen werden. Und doch gibt es sie, global vernetzt und politisch einflussreich. Wie um 1900 stehen dabei einerseits klinisch und vor allem epidemiologisch begründete Folgeschäden des Alkoholkonsums im Brennpunkt, anderseits wiederum die Machenschaften der «Alkoholindustrie», die die Menschen zum Trinken verführt (so als ob in vorkapitalistischer Zeit nicht gesoffen worden wäre). Und wie um 1900 finden sich in ihr Mässige und Radikale; sie bezeichnen sich bisweilen ironisch als «Wet» und «Dry», gehen nun aber nicht mehr mit Fäusten aufeinander los, zumal da Letztere das Reizwort 'Prohibition' strikt meiden.

Die Temperenzvereine der zweiten Mässigkeitsbewegung wie die Guttempler und das Blaue Kreuz hatten zwar – quasi im inneren Exil – überlebt, voran gingen nun aber engangierte Experten bzw. Lobbyisten aus Wissenschaft und Politik, die dem hedonistischen Zeitgeist getrotzt, aber kaum Gehör gefunden hatten. Das änderte sich. 1989 setzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Kaffee und den Tabak auf die Liste der «abhängig machenden Drogen», 1992 lancierte sie einen «Europäischen Aktionsplan Alkohol». Dieser Plan einer unbegrenzt fortschreitenden Senkung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauchs ging auf die nordischen Temperenzkulturen zurück und musste nach internen Machtkämpfen fallengelassen werden. Seither haben die «Wet» das Sagen; eingedämmt werden soll offiziell nur noch der schädliche Konsum, wobei freilich strittig bleibt, was das Wort 'schädlich' konkret bedeutet.

Doch auch ganz ohne alkoholpolitische Restriktionen ist der Verbrauch seit den 1980/90er Jahren in vielen Ländern, auch in der Schweiz, tendenziell rückläufig, zumal bei Jugendlichen. Das «Koma-Saufen » – das traurige Relikt des archaischen Gelages – gilt zunehmend als uncool. Und in TV-Talkshows bekommen die Gäste inzwischen Wasser vorgesetzt. Wer in der heutigen Leistungsgesellschaft bestehen will, zeigt demonstrative Nüchternheit.

Schlussbetrachtung

Der derzeitige Zeitgeist ist allerdings so wenig von Ewigkeitswert wie seine Vorgänger. Kaum merklich waren sie erodiert, grosse gesellschaftliche Umbrüche brachten dann einen plötzlichen Umschwung des Meinungsklimas. Ob bereits die Corona-Pandemie das Ende des Asketismus einläutet, sei dahingestellt. Manche träumen jedenfalls von einer «neuen Normalität» mit viel mehr Gesundheitsbewusstsein und viel weniger Kneipen. Und eine verängstigte Mittelschichtjugend in den reichen Ländern pocht angesichts des Klimawandels auf umfassende Askese. Diese Generation dürfte kaum zu Hedonisten mutieren. Doch irgendwann wird das Ende des Asketismus kommen, und zwar ohne dass damit das Ende der Leistungsethik verbunden sein wird. In jeder asketischen Phase werden Pflöcke eingeschlagen, Standards gesetzt, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Darin besteht der «Prozess der Zivilisation» (Norbert Elias), der uns immer mehr Sicherheit aber immer weniger Freiheit beschert. Der Hedonismus hilft, die Schattenseiten dieses Prozesses erträglich zu gestalten, auch mittels psychoaktiver Substanzen. Er weiss um die Sterblichkeit des Menschen. Der moderne «innerweltliche» Asketismus verdrängt sie [2]  – und er reduziert sie systematisch: Die Lebenserwartung steigt, die schiere Zahl an erreichten Jahren wird zum ultimativen Leitwert der Lebensführung. Genau das lehnt der Hedonismus ab. Beide Grundeinstellungen haben ihre Berechtigung, und – wie die historische Analyse zeigt – für beide gilt: In dem Moment, in dem sich eine Seite die kulturelle Hegemonie erkämpft hat, treten ihre Nachteile in den Blick, Widerstand regt sich und die kommende Generation wird sich von ihr abwenden. Für diese unterschwelligen Fluktuationen des Zeitgeists ist der Umgang mit dem Alkohol ein hervorragendes Beispiel.

Quelle: Blaues Kreuz 4/2021

 

[1] Dr. Hasso Spode ist Professor für Historische Soziologie an der Leibniz-Universität Hannover. Er hat über den Wandel des Ess- und Trinkverhaltens promoviert und über Alkoholgeschichte habilitiert. Der vorliegende Aufsatz ist eine leicht überarbeitete und gekürzte Fassung seines Artikels in SuchtMagazin 1/2021. Mit freundlicher Genehmigung von Infodrog.

[2] Die alte «ausserweltliche» Askese fürchtet den Tod nicht, ist sie doch auf das ewige Leben gerichtet. Dieses zweite Leben ist säkularisierten Kulturen abhandengekommen, stattdessen soll das erste und einzige möglichst lange dauern.

 

Weiterführende Literatur

Thomas Hengartner und Christoph Maria Merki (Hrsg.) (2001): Genussmittel. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel

Spode, Hasso (1993): Die Macht der Trunkenheit, Opladen: Leske & Budrich

Francesco Spöring (2017): Mission und Sozialhygiene. Schweizer Anti-Alkohol-Aktivismus im Kontext von Internationalismus und Kolonialismus. 1886–1939, Göttingen: Wallstein

Karl Wassenberg und Sabine Schaller (Hrsg.) (2010): Der Geist der deutschen Mäßigkeitsbewegung, Halle a.d.S.: Mitteldeutscher Verlag