Rochat und die Weinbauern

Vor der Einführung der Blaukreuz-Mitgliedschaft ohne Abstinenzverpflichtung erschien in dieser Zeitschrift ein Aufsatz von Raymond Bassin, der sich mit der Haltung des Blaukreuz-Gründers Louis-Lucien Rochat zu Abstinenz und Mässigkeit beschäftigte.  Wir drucken den Aufsatz hier leicht überarbeitet wieder ab.

Von Raymond Bassin[1]

Unsere Welt ist im Umbruch – das steht ausser Frage. Alles ist in Bewegung, und unser Leben hat kaum noch etwas mit dem Leben unserer Vorfahren gemein. Dadurch hat sich auch unser Konsumverhalten wesentlich verändert. Es ist unvermeidlich, dass auch ein Werk wie das Blaue Kreuz von diesem Wandel betroffen ist, denn wir leben nicht in einem luftleeren Raum. Eine Weiterentwicklung ist unumgänglich, wenn wir nicht zu einem Museum verkommen wollen.

Was aber tun, damit uns bei dieser Anpassung nicht unsere Prinzipien verloren gehen? Weise ist, wer zu den Wurzeln zurückkehrt und prüft, wie die Grundgedanken der Gründer in die Gegenwart übertragen werden können. Treue bedeutet weniger die Wiederholung von Worten als vielmehr eine der heutigen Zeit angepasste Umsetzung althergebrachter Überzeugungen. ln diesem Zusammenhang erinnere ich an die Position von Louis-Lucien Rochat (1849–1917) den Weinbauern gegenüber. ln der Zeitung des Blauen Kreuzes vom 30. Juni 1883 schreibt er Folgendes[2]:

«Man muss die Weinstöcke ausreissen!», hört man die Leute rufen, die zum ersten Mal von der Abstinenz und der Temperenzbewegung hören. ln einer etwas moderateren Form stellt sich die Frage unserer Haltung gegenüber der Weinkultur in unserem Lande auch seriösen und überlegten Geistern. Kritik erreicht uns von allen Seiten. Die einen denken, wir würden zum Ausreissen der Weinstöcke aufrufen, während uns andere Mitglieder, die eigene Weinberge besitzen, heuchlerischen Pharisäertums bezichtigen. Auf der andern Seite gibt es gutmeinende Menschen, Patrioten und christliche Philanthropen, die unter der Not leiden, den der Alkoholmissbrauch anrichtet, und überzeugt sind, dass die Abstinenz und der Glaube an unseren Herrn Jesus Christus der beste Weg sei, um Opfer des Alkoholismus wieder aufzurichten. Diese könnten jedoch unserem Werk nicht beitreten, weil sie selber Weinberge besitzen.

Diesbezüglich möchte ich die Haltung unseres Vereins dem Wein gegenüber in Erinnerung rufen. Es ist eine neutrale Haltung, die sich von einer übertriebenen Weingegnerschaft unterscheidet. Einerseits können wir uns der Lehre der Temperenzbewegung nicht anschliessen, die den Weingenuss in jedem Fall als gefährlich und gesundheitsschädigend betrachtet und die Abstinenz zur allgemeinen Christenpflicht erklären will. Andererseits teilen wir auch nicht die abergläubische Meinung, der Wein sei eine «Gabe Gottes», von der ein jeder nehmen sollte, und leiten daraus ab, der moderate Konsum sei gewissermassen eine höhere moralische Haltung als die der Abstinenz. Für uns ist der Wein ganz einfach ein von Menschenhand aus der Frucht des Weinberges hergestellter Konsumartikel. Wenn man so will, ist er auch «eine Gabe Gottes», aber nicht mehr als andere industrielle Erzeugnisse auch.

Aus gesundheitlicher Sicht ist der Wein keine Notwendigkeit, auch nicht als Heilmittel. Wir glauben, dass ein Mensch im Normalzustand ohne Wein leben kann, ohne zu leiden. Demgegenüber anerkennen wir aber auch klar, dass der Wein absolut ungefährlich ist, solange er streng mässig und in einer Form konsumiert wird, die weder unsere Fähigkeiten noch unsere Organe beeinträchtigt.

Aus moralischer Sicht betrachten wir den mässigen Weinkonsum als durchaus legitim und erlaubt. Wenn sich unsere Mitglieder dazu verpflichten, sich aller berauschenden Getränke zu enthalten, dann nicht, um diese zu verurteilen, sondern weil uns die Abstinenz als besseres Mittel erscheint, den Missbrauch zu bekämpfen und jene zu retten, die ihm zum Opfer gefallen sind.

Wir sind weit davon entfernt, die allgemeine Abstinenz zu postulieren, empfehlen diese jedoch drei Kategorien von Menschen:

  1. jenen, die nicht mässig trinken können,
  2. jenen, die in Gefahr sind, Trinker zu werden,
  3. jenen, die bereits mässig trinken und uns helfen wollen, Opfer des Alkoholismus zu retten.

 Wer nicht Trinker ist und auch nicht Gefahr läuft, es zu werden, und wer sich nicht durch Patriotismus, Menschenliebe oder ein christliches Gewissen gedrängt fühlt, mit uns an diesem speziellen Werk und mit denselben Methoden zu arbeiten, den verurteilen wir in keiner Weise. Die Konsequenz dieser Prinzipien sind:

  1. Wenn wir den Weinkonsum nicht verurteilen, dann können wir auch die Weinberge und ihre Besitzer nicht verurteilen.
  2. Wenn unsere Prinzipien uns nicht verbieten, unseren nichtabstinenten Tischgenossen Wein anzubieten, müssen wir ihn bei jenen besorgen, die ihn pflanzen und herstellen.

Es gibt daher keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen unseren Prinzipien und der Bewirtschaftung von Weinbergen, der Herstellung und dem Verkauf von Wein.

Ein Weinbauer kann also durchaus den Missbrauch und die Trunksucht gewissenhaft mit den Prinzipien und Methoden des Schweizerischen Temperenzvereins bekämpfen. Uns als «Abstinenzverein» zu bezeichnen, ist allerdings falsch. Nicht umsonst haben wir unseren schweizerischen Verein einen Mässigkeitsverein genannt, auch wenn er sich ausschliesslich aus Abstinenten zusammensetzt. Ein Verein kennzeichnet sich vor allem durch seine Ziele; unsere sind die der Mässigkeit. Die Abstinenz wurde bloss als Methode eingeführt, weil wir uns neben der Arbeit für die Mässigkeit immer auch für die eingesetzt haben, die nur über den neuen Weg der Abstinenz zur Tugend zurückfinden können.

Es wäre darum unserer Meinung nach nicht im Sinn der Ziele, die wir uns gesetzt haben, wenn wir den Missbrauch mit dem Ausreissen der Weinstöcke zu bekämpfen versuchten.

Dies wäre zwar respektabel, aber es würde unserer Sache mehr schaden als nützen. Es würde nicht nur nichts am allgemeinen Missbrauch ändern, sondern nur unseren Verein diskreditieren und jene Vorurteile verstärken, die in uns nur eine Art «soziale Reblaus sehen, die die Weinberge zerstören will».

Diese offene Haltung von Louis-Lucien Rochatsollte uns nachdenklich stimmen: Sicher, die Abstinenz finden wir als Prinzip und Basis desBlauen Kreuzes bestätigt. Sie ist ein Grundstein unserer Bewegung, aber nur als Methode.Es stellen sich darum folgende Fragen:

  • Was bedeutet dies für unseren generellenAuftrag, der gleichzeitig die Hilfe an denen beinhaltet, die mit dem Alkohol ein Problem haben, und für die Förderung derMässigkeit – oder der «Temperenz» –, umden Begriff von Rochat zu verwenden?
  • Wie können wir jenen in unseren Reihen einen Platz einräumen, die bereit sind, an der erwähnten Mässigkeit zu arbeiten, ohne sich jedoch eine Abstinenzverpflichtung auferlegen zu wollen?

Dies sind grundlegende Fragen. Darauf müssen wir eine Antwort finden, wenn wir nicht wegen unserer unbeugsamen Haltung untergehen wollen.  Eine sachliche Auseinandersetzung ist nötig, denn es handelt sich hier nicht um ein grundlegendes Element, sondern um eine Methode.

 

Quelle: Blaues Kreuz 4/2019

[1] Raymond Bassin (1943–2012) war viele Jahre Präsident des Schweizerischen und des Internationalen Blauen Kreuzes und Pfarrer im Berner Jura. Dieser Artikel erschien erstmals in Blaues Kreuz 5/2001.

[2] Aus dem Französischen von Walter Liechti, Geschäftsführer des Blauen Kreuzes der deutschen Schweiz von 2000 bis 2013.