«Sucht ist keine Lebensdiagnose»

Michel Sutter wuchs als Sohn von süchtigen Eltern auf und rutschte später selbst in die Sucht ab. Heute ist er seit mehr als zehn Jahren suchtfrei und arbeitet als Peer-Mitarbeiter einer Klinik sowie bei der Organisation «Peerspektive», die er mitbegründet hat.

Wer sind Sie, Herr Sutter, und was ist das Ziel von «Peerspektive»?[1]

Ich heisse Michel Sutter, komme ursprünglich aus dem Kanton Aargau und bin bald 47 Jahre alt. Ich hatte eine lange Suchtkarriere, die mich fast vierzig Jahre meines Lebens begleitet hat. Als Sohn von süchtigen Eltern bin ich mit sehr viel Druck aufgewachsen und irgendwann selber in die Sucht hineingeschlittert. Das war eine ziemliche Odyssee, ich war gut zwanzig Jahre aktiv süchtig, was bis zum intravenösen Konsum vom Kokain und Heroin reichte.

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Meine Hauptsubstanz war immer Alkohol und jetzt, seit etwas mehr als zehn Jahren, bin ich clean. Ich habe eine etwas andere Perspektive auf die Suchtthematik, die ich gerne mit Menschen, die eine ähnliche Geschichte wie ich haben, teilen möchte und mit der ich auch Fachpersonen erreichen will. Das Wortspiel «Peerspektive» ist von der immer stärker aufkommenden Peer-Arbeit inspiriert. Hier habe ich ganz bestimme Vorstellungen, wie ich diese umsetzen möchte: Ich möchte meine Geschichte transparent machen, denn ich glaube, dass ich Dinge zu erzählen habe, die sowohl Süchtige als auch Betroffene und Fachleute interessieren könnte.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich von der Sucht abzuwenden?

Ich hatte einige Schlüsselerlebnisse. Zum Beispiel während meiner letzten Therapie, als eine Ärztin über neuronale Plastizität sprach. Das bedeutet, dass das Gehirn bis ins hohe Alter formbar ist. Konditionierungen müssen nicht dauerhaft Macht über uns haben. Man kann sich neu konditionieren und neue Gewohnheiten zulegen. Das war mein Aha-Erlebnis. Ich weiss nicht, ob der Ärztin bewusst war, was das bei mir ausgelöst hat, aber in diesem Moment habe ich beschlossen, dass ich mich neu konditionieren werde. Ich habe angefangen, mein Belohnungssystem, das ja viel mit der Sucht zu tun hat, anders zufriedenzustellen als mit Suchtmitteln. Dabei sind Achtsamkeit und Entspannung – sich selbst auszuhalten – die Schlüsselbegriffe für mich. Ich bin im permanenten Dialog mit mir selbst. Mir ist klar, dass meine destruktiven Verhaltensweisen verstandesbedingt sind. Meine Denkmaschine arbeitet den ganzen Tag, mein Verstand ist mein Werkzeug. Und ich meine, dass bei einem Süchtigen – aber ich wage zu behaupten bei fast allen Menschen – dieses Werkzeug ausser Kontrolle ist. Das Werkzeug beherrscht im Endeffekt den Menschen. Es denkt permanent. Wie viel Einfluss dieses Denken auf uns haben darf, das können wir beeinflussen. Aber das schnell weiterzuvermitteln geht eben nicht, es braucht diese Aha-Erlebnisse.

Jetzt beraten Sie Süchtige und Betroffene. Wie kam es dazu?

Ich sage immer: Ich berate nicht. Ich erzähle meine Sicht der Dinge und was mir geholfen hat. Wenn jemand meinen Rat haben will, bin ich vorsichtig. Ich-Botschaften haben oberstes Gebot. Als ich vor 25 Jahren zum ersten Mal aufhören wollte, hiess es: Sucht ist eine Lebensdiagnose, das wirst du nie mehr los. Solche Aussagen nehmen die Motivation und die Hoffnung. Ich habe das anders wahrgenommen in meinem Leben. Und ich habe darauf hingearbeitet, dass Sucht eben nicht eine Lebensdiagnose ist, sondern dass ich mich von meiner Sucht und vom Suchtdruck lösen kann. Ich will mich nicht mit achtzig Jahren noch als trockenen Alkoholiker oder cleanen Junkie bezeichnen müssen. Genau diese festgefahrenen Denkweisen stigmatisieren Menschen, die sich als Folge selbst weiter stigmatisieren und sich nochmals unnötig unter Druck setzen.

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Ich möchte vermitteln, dass es eben durchaus möglich ist, eine Suchterkrankung loszuwerden. Wenn man einen gewissen Dialog mit sich selbst findet, gibt es durch Selbstwirksamkeit Möglichkeiten, die Sucht zu überwinden. Das ist meine feste Überzeugung und damit stosse ich auf Anklang. Wenn ich das Fachpersonen oder Betroffenen erzähle, horchen diese auf.

Man muss vielleicht den Begriff Beratung in diesem Kontext überdenken oder ersetzen. Es klingt mehr nach einer Begleitung, was Sie machen.

Ja, mit den Begriffen nehme ich es genau. Beraten oder helfen, das klingt immer nach Notaufnahme, dort helfen sie einem auch. Ich gebe keinen Rat im strengen Sinne oder sage den Leuten, wie sie es machen sollen. Ich erzähle einfach, wie ich es damals gemacht habe oder wie ich es machen würde. Auch da ist man schon fast wieder beim Beraten.

Deshalb halte ich mich da anfänglich etwas zurück, teile zuerst meine Erfahrung und schaue dann, was sich entwickelt.

Was können Sie mit Peer-Arbeit erreichen, wo andere Anlaufstellen scheitern?

Ich bin als Peermitarbeiter in einer Klinik angestellt und für die Leute dort einfach ein Ex- Süchtiger, der weiss, wovon die Rede ist. Sie haben einen anderen Zugang zu mir, wissen, «Ah, der ist authentisch, der spricht aus Erfahrung und versteht, was ich meine». Die Leute haben häufig eine ganz andere Sprache und keine Hemmungen, Dinge anzusprechen. Ich höre regelmässig, dass sie mir gewisse Dinge erzählen, die sie noch nicht einmal der psychiatrischen Fachperson anvertraut haben. Wir sind eine Peergroup, Gleichgesinnte quasi und auf Augenhöhe. Aber es ist natürlich wichtig, dass der Peer eine gesunde Distanz zu seiner Geschichte hat. Man kann schnell in einer Situation landen, wo man nicht mehr genau weiss, wer welche Rolle hat. Und es geht ja eben nicht um Rollen, sondern um den Erfahrungsaustausch.

Betroffene als Expertinnen und Experten ernst zu nehmen ist eher eine neue Tendenz. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Ich bin hier ein wenig kritisch eingestellt: Ich höre von Leuten, die sich schon während eines Klinikaufenthalts mit Organisationen vernetzen, die Peer-Beratung anbieten. Ich muss hier ein wenig vorsichtig sein, aber es gibt tatsächlich Leute, die gezielt Netzwerke aufbauen, weil sie gemerkt haben, dass im Peerbereich Geld zu holen ist, dass es ein Trend ist. Diese Netzwerke nehmen jeden, der sich anbietet, ohne diese Menschen wirklich zu kennen. Ohne zu wissen, ob diese Leute eine Distanz zu ihrer Geschichte entwickelt haben, ohne zu wissen, wie es diesen Leuten wirklich geht und ob sie in der Lage sind, so zu arbeiten. Zu Peer-Arbeit, und das klingt sicher ein wenig anmassend, muss man fast geboren sein. Im therapeutischen Setting erlebe ich immer wieder, dass Menschen, die noch in Therapie sind, auch im sozialen Bereich aktiv werden wollen. Sie wollen helfen. Und durch Helfen kann man eben auch von den eigenen Problemen ablenken. Deshalb ist es für mich ganz wichtig, dass eine Distanz da ist zu den eigenen Themen, dass eine Versöhnung mit der Vergangenheit stattgefunden hat. Wenn ich viele wunde Punkte habe, dann wird, früher oder später, ein solcher Punkt getroffen. Wenn man hier die Distanz nicht hat, kann man nicht adäquat reagieren und je nachdem mehr schaden als nützen.

Arbeiten Sie auch in der Prävention oder vor allem mit Betroffenen?

Ich besuche vermehrt Schulklassen und versuche dies in Zukunft noch besser zu vermarkten. Prävention ist sehr wichtig. Es sind vor allem Oberstufenklassen, in denen ich Referate halten durfte. Aber auch dort gab es teilweise Überschneidungen. Es kann vorkommen, dass in Klassen Jugendliche schon betroffen sind und ich auch gebeten werde, noch einzeln mit diesen zu sprechen. Aber in den meisten Fällen geht es darum, meine Lebensgeschichte zu erzählen und aufzuzeigen, dass es sich im Endeffekt nicht lohnt, eine Suchtkarriere zu starten. In diesen Schulbesuchen sehe ich viel Potential. Mit Referaten, Workshops oder themenzentriertem Theater können Schülerinnen und Schüler lernen, mit ihrer Gefühlswelt umzugehen. Das wirkt einer Drogenkariere präventiv entgegen.

Wäre das auch Ihre Antwort auf die Frage: Was ist die beste Suchtprävention?

Es wäre eine Teilantwort. Ein weiterer Punkt wäre die Frühförderung, das wäre die noch bessere Prävention. Ich habe im Kindesschutz gearbeitet, in der Elternberatung, zwar in der Administration, aber ich habe bleibende Eindrücke von den Gesprächen, bei denen ich dabei war. Es gibt keine Verpflichtung für Eltern, einen Kurs «Elternsein» zu besuchen. Ich denke, dass fast alles, was mit psychischen Problemen oder Sucht zu tun hat, mit der Bindungsproblematik in der frühen Kindheit beginnt. Das klingt vielleicht weit hergeholt, aber aus meiner Erfahrung ist bei den meisten Menschen, die eine Suchterkrankung entwickeln, ein Bindungsdefizit vorhanden. Das Suchtmittel ist die Kompensation eines Mangels. Es soll ein Gefühl betäuben oder verstärken. Und tatsächlich berichteten fast alle, mit denen ich gesprochen habe, von traumatischen Kindheitserlebnissen, auch wenn das manchmal sehr gut versteckt ist. Es geht nicht darum, Schuldige zu finden, sondern darum, die Verantwortlichkeiten festzulegen oder eben auch zu verteilen. Bei mir war das zum Beispiel meine Mutter. Ich habe mich für sie verantwortlich gefühlt und zwar seit ich denken kann. Das hatte gravierende Auswirkungen auf mich und das musste ich im Erwachsenenalter aufarbeiten.

Wenn Sie die Suchtpolitik der Schweiz nach Ihren Gutdünken verändern könnten, was würden Sie lassen und was würden Sie anpassen?

Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu Substitutionsprogrammen. Es braucht medikamentöse Unterstützung, ganz klar, zum Beispiel bei akuten psychischen Erkrankungen. Suchterkrankung zähle ich da auch dazu. Es ist klar, dass Methadon das Leben eines Heroinabhängigen vereinfachen kann. Und doch finde ich die Tendenz zur Substitution, oder wie ich es nenne Kreuzsubstitution, ein bisschen bedenklich. Ich habe schon Geschichten gehört, da wurden zum Beispiel Magersüchtige mit süchtig machenden Beruhigungsmitteln zum Essen verleitet. Oder eben Methadon: Ist das nicht einfach ein Mittel zur Ruhigstellung? Natürlich, jemand, der Methadon nimmt, wird in der Regel nicht delinquent. Aber trotzdem verlagert man das Problem ja auf eine Art. Es gibt gravierende Substanzen, die sich gar nicht substituieren lassen, wie zum Beispiel Kokain. Hier frage ich mich: Ist es der richtige Weg, eine Ersatzsubstanz zu finden.

Mein Wohlbefinden besteht daraus, nicht mehr auf eine Substanz angewiesen zu sein, selbstwirksam zu agieren und in Zufriedenheit mit mir selbst leben zu können. Solange ich nach aussen greifen und irgendeinen Stoff haben muss, solange bleibe ich der Suchtthematik treu. Wenn der Ursprung der Sucht nicht bearbeitet wird, verlagert sich die Problematik und diese Person findet einfach keine Ruhe. Das kann sich auch in Verhaltenssüchte verlagern. Ich finde, die Selbstwirksamkeit und die Eigenverantwortung sollten mehr im Fokus der Suchtbehandlung stehen.

Welche Lücken sehen Sie im Behandlungsangebot für Suchtbetroffene?

Wie erwähnt die Selbstwirksamkeit und die Eigenverantwortung, aber es gibt noch weitere. Grundsätzlich haben fast alle Menschen in unserer Gesellschaft etwas gemeinsam: Die wenigsten können sich selbst aushalten. Man hat sein Handy, seine Zigaretten, trinkt Kaffee und Wein oder schaut fern und beruhigt sich so ein wenig. Zur Ruhe kommen oder in Stille mit sich sein, das verlernen die Menschen zunehmend. Wenn das niemand mehr kann, dann wird das auch niemand an andere weitervermitteln. In unserem Alltag flüchten wir permanent vor uns selbst. Ob das jetzt süchtige Menschen sind oder nicht süchtige oder solche, die nicht offiziell als süchtig gelten, wie auch immer. Hier bräuchte es ein stärkeres Bewusstsein. Was ist alles Ablenkung und wie gut kommt man mit sich alleine zurecht? Dies gerät in unserer Gesellschaft immer mehr in Vergessenheit.

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Die Bereinigung der Altlasten ist ebenfalls ein wichtiges Thema. Ich sage immer: Ich habe meinen Keller aufgeräumt. Meine erste Therapie vor bald 25 Jahren war sehr erfolgreich, ich trat von Bier aufgeschwemmt ein und habe im Verlauf stark abgenommen, war sehr fit. Zwei Jahre habe ich durchgehalten, schnell wieder Anschluss gefunden, konnte meine Schulden tilgen und dachte, dass mich nichts mehr erschüttern kann. Durch Leichtsinnigkeit schlitterte ich langsam wieder hinein. Im Nachhinein ist mir natürlich bewusst, was passiert ist: Ich habe die Oberfläche behandelt, aber einen Dialog mit mir selbst hatte ich noch nicht gefunden. Die Versöhnung mit der Vergangenheit und den betroffenen Personen stand mir noch bevor. Ich habe das dazumal missachtet, aber glücklicherweise nachholen können. Das ist Fundament meiner Abstinenz und meines suchtfreien Lebens.

 

Der Verein «Peerspektive»

Michel Sutter hat mit Menschen, die wie er von einer Sucht, einer psychischen Erkrankung oder einer ähnlichen Leiderfahrung betroffen waren, den Verein «Peerspektive» gegründet. Peers sind Expertinnen und Experten aus Erfahrung. Sie wirken als Bindeglied zwischen Fachpersonen und Betroffenen. Peerspektive möchte durch Gespräche, Supervision, Workshops und Öffentlichkeitsarbeit anderen Betroffenen Mut machen, Hoffnung geben und Wege zur persönlichen Genesung eröffnen.

 

[1] Dieses Interview erschien zuerst im Juni dieses Jahres in der vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegebenen Zeitschrift spectra. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des BAG

Quelle: Blaues Kreuz 6/2021