Abends nach der Arbeit ein paar Gläser Wein, um mich zu trösten und zu entspannen – morgens ein, zwei Gläser, um das Zittern zu dämpfen. Ohne das hätte ich bei der Arbeit mit der Pipette nie das Reagenzglas getroffen. Später in der Entzugsklinik traf ich einen Pöstler, der während der Arbeit eine Wodkaflasche unter dem Fahrersitz liegen hatte. Er hätte nicht fahren können, wenn er nicht getrunken hätte.
Alkohol ist ein Teufelszeug
Der Alkohol hat mir damals vermeintlich geholfen, mit seiner sofortigen körperlichen Wirkung die kurzfristig Entspannung und einen Hauch der verlorenen Selbstachtung zurückzubringen. Am nächsten Morgen folgen jedoch mit Getöse die viel stärkeren Emotionen: grenzenloser, beissender Selbsthass, Schuldgefühle, Scham, Ekel und Reue. Alkohol verändert nicht nur augenblicklich die Wahrnehmung von allem, sondern er verändert auch den eigenen Ausdruck. Ich wurde damals zu einem völlig anderen Menschen. Ich log, was das Zeug hielt, log mich durchs Leben. Als der Chef etwas merkte, sagte ich, dass wir Vorabend gefeiert hätten. «Festen Sie weniger unter der Woche», war seine Antwort. In der Zwischenzeit versteckte ich die Flasche im Garderobenschrank und trank auf der Toilette einen halben Liter in einem Zug, um wieder Boden unter die Füsse zu kriegen. Andere schmeissen Tabletten, das ist noch weniger sichtbar.
Die grösste Lüge aber richtete ich gegen mich selbst: «Ich will ein freier Mensch sein und freiwillig so viel trinken, wie ich will.» – Doch im Grunde, so merkte ich später, war dieser Wille nicht Ausdruck von Freiheit und Selbstliebe, sondern von Hoffnungslosigkeit und Gefangenschaft. Alkoholsucht ist in erster Linie eine ständige und durchdringende Selbstverletzung, ein Drehen am Rad der Verzweiflung und Schuld. Deshalb brauchen die Hilfebringenden und die Selbstfürsorge so viel Geduld und Fingerspitzengefühl. Das komplexe Zusammenspiel der Verstrickungen muss behutsam gelöst werden, damit die Selbstachtung wieder wachsen kann.
Natürlich fand ich in meiner Arbeitssituation Gründe, die, wie mir schien, das Trinken rechtfertigten. Ich fühlte mich von meinem Chef völlig fertiggemacht. Rückblickend denke ich, dass er der Situation schlicht nicht gewachsen war. Viele Chefs eilen selbst von Apéro zu Businesslunch – Alkohol ist ein riesiges Tabu und führt ein paradoxes Dasein: Einerseits soll man die Finger davonlassen, andererseits wird er immer und überall angeboten, ja sogar aufgedrängt. Trinken gehört in gewissen Kreisen fast schon zum guten Ton. Zum Glück sind nicht alle so suchtgefährdet, wie ich es bin. Ich musste lernen, zu mir zu stehen und nein danke zu sagen.
Es gibt Hilfe!
Gewünscht hätte ich mir damals, dass meine Vorgesetzten den Mut gehabt hätten, sich mit mir zusammenzusetzen und zu fragen: Wo liegt das Problem? Reden hilft am meisten, aber es braucht gegenseitige Achtung. Wenn jemand gesagt hätte: «Du bist wichtig für uns, wir haben dich gern im Team!», hätte ich alles zugegeben. Es muss um dich als Mensch gehen und nicht nur um dich als Arbeitskraft. Deshalb rate ich allen Chefinnen und Chefs und auch allen anderen Menschen: Habt Mut, sprecht das Thema an, bietet Hand! Wer nicht weiss, wie und deshalb selbst Unterstützung braucht, sollte sich Hilfe holen, zum Beispiel beim Blauen Kreuz, das auch Firmen und Angehörige berät.
-> die Arbeit des Blauen Kreuzes unterstützen
Der Entzug in der Klinik und später die persönliche Suchtberatung beim Blauen Kreuz haben mir sehr geholfen. Es ist entscheidend, Menschen zu treffen, die an dich glauben und dir von einem selbstbestimmten Leben ohne Sucht erzählen. Und davon, dass es möglich ist und auch du es schaffen kannst. Heute habe ich gelernt, meine eingeübten, heimlichen Automatismen umzudrehen: Statt in der Lüge lebe ich jetzt in der echten Freiheit. Und die ist so schön! Sie verlangt aber von mir, dass ich mich jeden Tag darin übe, das Leben, die Dinge, die anderen Menschen und vor allem mich selbst wirklich zu achten und wertzuschätzen.
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