«Unser Arbeitsfeld ist hart umkämpft – wir müssen uns gut positionieren»

Interview mit unserem neuen Geschäftsführer Marc Peterhans.

Blaues Kreuz: Seit August bist du Geschäftsführer des Blauen Kreuzes Schweiz. Welche beruflichen Stationen hast du vorher durchlaufen?

Marc Peterhans: Ich habe Psychologie studiert und zunächst mit sogenannt verhaltensauffälligen Jugendlichen gearbeitet. Dabei kam ich zum ersten Mal mit dem Thema Sucht in Berührung: Die Jugendlichen haben heimlich geraucht, gekifft und im Ausgang Alkohol getrunken. Sehr jung bekam ich dann die Chance, im Bildungsbereich eine spannende Führungsaufgabe zu übernehmen. Ich baute ab 2001 am Bildungsinstitut ICP in Wisen bei Olten eine sozialpädagogische Ausbildung auf, entwickelte diese zu einer Höheren Fachschule für Sozialpädagogik weiter und erreichte zusammen mit meinem Team die eidgenössische Anerkennung der Schule. Dadurch konnte diese von fünfzig auf gut neunzig Studierende ausgebaut und die Strukturen weiterentwickelt werden. Daneben habe ich mich in verschiedenen nationalen Branchen- und Bildungsverbänden engagiert.

Welche Ausbildungen bietet die ICP an?

Neben der höheren Fachschulausbildung in Sozialpädagogik entwickelten wir diverse Weiterbildungen und Inhouse-Schulungen. Als Leiter baute ich das Kontaktnetz aus, zum Beispiel zu sozialpädagogischen Institutionen der stationären Suchthilfe und der Kinder- und Jugendhilfe. Dies ermöglichte mir Einblicke in das breite Berufsfeld der Sozialpädagogik, von der Leitungsebene bis zu den Studierenden. Letztere kamen aus der ganzen Deutschschweiz.

Hast du auch unterrichtet?

Ja, zum Beispiel Grundlagen der Sozialen Arbeit, Entwicklungspsychologie, die Geschichte der Sozialen Arbeit und systemische Soziale Arbeit. Im Unterricht beschäftigte uns auch immer wieder die Frage, wie man den christlichen Glauben und die Fachlichkeit differenziert verbinden kann.

Wie kam es zur Beschäftigung mit dieser Frage?

Die ICP entstand in den 1990er Jahren, als viele Suchthilfeeinrichtungen gegründet wurden. Es war die Zeit der offenen Drogenszene am Zürcher Platzspitz und im Berner Kocherpark. Es entstanden damals viele christliche Institutionen, die sich der Not annahmen. Sie schlossen sich zur Arbeitsgemeinschaft christlicher Lebenshilfe (ACL) zusammen. Viele Mitarbeitende – darunter auch ehemalige Süchtige – waren hoch motiviert, aber nur wenige verfügten über eine Fachausbildung. Leitende der ACL ergriffen deshalb die Initiative und gründeten mit der ICP eine eigene Ausbildungsstätte.

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Wie hast du das Handwerk des Geschäftsführers erlernt?

Durch viel Erfahrung, engen Austausch mit Leitenden sozialpädagogischer Einrichtungen und durch eine Ausbildung in NPO-Management.

Was bereitet dir dabei besonders Spass?

Es begeistert mich, gemeinsam mit Menschen eine Vision zu entwickeln, diese Schritt für Schritt umzusetzen und Menschen für den gemeinsamen Weg zu gewinnen. Solche Erfolge geben mir Befriedigung. Gestaltungsaufgaben faszinieren mich. Eine Herausforderung ist es, Prioritäten zu setzen. Man muss sich immer wieder fragen: Was ist wirklich wichtig? Was braucht es wirklich, was nicht unbedingt? Ich sehe mich klar als Generalist. An der ICP hatte ich verschiedene Aufgaben, zum Beispiel Marketing, Rekrutierung, Vorlesungen, Finanzen, Personal. Diese Vielfalt passt zu mir und macht mir Spass.

Wie hat deine Familie auf deine neue Stelle reagiert?

(lacht) Da ich meine alte Stelle gekündigt hatte, ohne zu wissen, was ich danach machen würde, lebten wir in einer besonderen Situation. Wir nutzten gemeinsam die Gelegenheit für ein Auslandprojekt und lebten für ein halbes Jahr in Madagaskar. Wenige Tage vor unserer Abreise schickte ich meine Bewerbung ab. Meine ganze Familie freute sich über die Zusage und über diese spannende Aufgabe so rasch nach unserem Auslandaufenthalt.

Welche Hobbies und Interessen pflegst du neben der Arbeit?

Da ich noch zwei jüngere Kinder habe, steht natürlich meine Familie im Mittelpunkt. Meine Jungs sind in einem Alter, in dem wir viel zusammen unternehmen können: Fussball spielen – eine meiner Leidenschaften –, Skifahren, gemeinsam biken oder im Wald «brötle» … Ich gehe auch gerne joggen oder spiele Badminton. Bewegung hilft mir, den Kopf freizubekommen. Ausserdem lese ich gerne.

Was liest du gerade?

Im Moment lese ich die Biografien der Blaukreuz-Gründer Louis-Lucien Rochat und Arnold Bovet! Geschichte interessiert mich. Sie hilft mir zu verstehen, wie etwas gewachsen ist und wo die Wurzeln des Blauen Kreuzes liegen. Ich habe auch das Buch «Von Mistgabeln und Nächstenliebe» aus dem Blaukreuz-Verlag gelesen, in dem die Lebensgeschichten aussergewöhnlicher Blaukreuz-Mitarbeitender aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieben sind. Ich bin fasziniert von der hohen Identifikation und der Leidenschaft dieser Menschen. Ein anderes Buch, das ich gerade lese, ist «Öffentlich glauben in einer pluralistischen Gesellschaft» von Miroslav Volf. Der Autor beschäftigt sich mit der Stellung der Religion in unserer Zeit und der Frage, wie Religion in der modernen Gesellschaft bestehen kann.

Wie würdest du dich als Führungspersönlichkeit beschreiben?

Ich denke, dass ich eine gute Mischung aus Menschen- und Sachorientierung habe. Von meinem Naturell her liegt mir die Sachorientierung etwas näher, aber mein Werdegang hat mir gezeigt, dass ich auch den Menschen im Blick habe, seien es die Klientinnen und Klienten, Jugendliche oder Mitarbeitende. Eine weitere Stärke von mir ist es, Themen inhaltlich zu entwickeln, eine Vision zu entwerfen und Menschen dafür zu gewinnen. Ich kann Menschen für eine Sache begeistern.

Was hat dich dazu bewogen, im sozialen Bereich zu arbeiten?

Nach einer naturwissenschaftlichen Matura studierte ich Psychologie. Mir ist in meiner Arbeit der Sinn sehr wichtig. Diesen habe ich in den Naturwissenschaften nicht gefunden – der Mensch interessierte mich mehr und mehr. Das Blaue Kreuz hat für mich eine starke Sinndimension: Wir setzen uns dafür ein, dass Alkohol kein Leid verursacht!

Wie hat deine persönliche Erfahrung dein Bild von Sucht und Abhängigkeit geprägt?

Als ich zehn Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Fünf Jahre später heiratete meine Mutter wieder. Es stellte sich heraus, dass ihr neuer Mann Alkoholiker war. In diesem Umfeld lebte ich, bis ich zwanzig war. Ich habe Gewalt in meiner Familie miterlebt und kenne das Alkoholproblem und die damit verbundenen Herausforderungen für das gesamte Umfeld aus eigener Erfahrung.

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Welche Vision hast du für das Blaue Kreuz?

Nach nur zwei Monaten kann ich dazu noch nicht viel sagen. Ich schaue hin und versuche zu verstehen, was bisher an Wertvollem entstanden ist und geleistet wurde. Ich wünsche mir, dass das Blaue Kreuz ein starker Akteur im Suchthilfemarkt bleibt, beim Alkohol und darüber hinaus. Unser Arbeitsfeld ist hart umkämpft, wir müssen uns gut positionieren. Zweitens höre ich in Gesprächen mit Dritten, dass das Blaue Kreuz entweder nicht sehr bekannt sei oder ein etwas verstaubtes Image habe. Hier möchte ich einen Beitrag leisten. Ich wünsche mir, dass das Blaue Kreuz als professionelle und innovative Organisation bekannter wird. Der christliche Glaube ist für mich kein Relikt aus der Vergangenheit. Ich wünsche mir eine differenzierte Auseinandersetzung, die sich am aktuellen Fachdiskurs orientiert, in dem Glaube und Spiritualität als Ressource gesehen werden.

Was meinst du genau mit Ressource?

Die Fachwelt ist sich heute einig: Glaube und Religion können für Menschen eine wichtige Ressource zum Beispiel für ihr Selbstwertgefühl sein oder Halt und Orientierung geben. Religion kann Sinn stiften. Es gibt jedoch ein Aber: Jede dieser Ressourcen kann in einer ungesunden Form auch Schaden anrichten. Spiritualität – das ist der Begriff, den man heute im Fachdiskurs verwendet – macht also nicht immer und unbedingt gesund, sondern kann auch krank machen. Eine Kirche kann zum Beispiel Halt geben, sie kann aber auch ein starrer Ort sein, der Druck macht und Ängste auslöst. Gott kann mir Selbstwert vermitteln, mich bei einer Vorstellung von einem Gott, der ständig straft, aber auch hemmen. Das Wissen darüber ist heute sehr differenziert. Der Glaube wird nicht an sich beurteilt, sondern in seiner Ausprägung. Diese Differenzierung brauchen wir auch in der sozialen Arbeit.

Wie möchtest du die Zusammenarbeit mit den Mitgliedsorganisationen fördern und gestalten?

Eine zentrale Aufgabe sehe ich darin, das Miteinander zu betonen und gleichzeitig die Unterschiede zwischen den Regionen ernst zu nehmen. Bei meinen Besuchen der Mitgliedsorganisationen habe ich festgestellt, dass das Miteinander gewachsen ist. Als Dachverband haben wir die doppelte Aufgabe, die besondere Situation der Mitglieder zu verstehen, aber auch, Wege des Miteinanders aufzuzeigen und zu gehen. Das kann für eine Region auch einmal bedeuten, einen Schritt zurückzutreten und Kompromisse einzugehen. Die Bereitschaft dazu sehe ich. Für mich ist es wichtig zu verstehen, was die Regionen brauchen, und mich dafür einzusetzen, dass der Dachverband entsprechende Leistungen erbringt.

Mit welchen Erwartungen wurdest du konfrontiert?

Sicher mit der Erwartung, dass wir nützliche Dienstleistungen erbringen. Ich biete zum Beispiel Unterstützung bei der Einhaltung des neuen Datenschutzgesetzes an. Potenzial sehe ich auch in der Kommunikation. Heute schreibt jede Organisation ihre Texte selbst, anstatt sie untereinander zu teilen. Anerkennung bekam ich für unsere nationalen Engagements wie zum Beispiel die Kampagne gegen den Alkoholverkauf in der Migros, die Stärkung des Jugendschutzes in der Tabak- und Cannabispolitik oder die Stärkung unserer Position in der schweizerischen Suchthilfeszene.

Das Blaue Kreuz erarbeitet zurzeit eine neue Strategie. Welche Rolle sollte diese spielen?

Eine zentrale Rolle! Die Strategie soll unser Fokus sein, an dem wir unsere Tätigkeit messen. Sie dient als Leitplanke, die uns hilft, unsere vielfältigen Aktivitäten auf Ziele auszurichten. Sie soll uns auch helfen zu entscheiden, wo wir unsere knappen Ressourcen einsetzen.

Was möchtest du unseren Mitarbeitenden, unseren Freiwilligen und allen, die das Blaue Kreuz unterstützen, mit auf den Weg geben?

Ich möchte ihnen für ihr Engagement danken! Ich habe in den ersten Wochen viele Menschen kennengelernt, die sich aus Solidarität mit Suchtbetroffenen voll und ganz für unseren Auftrag einsetzen. Davon lebt das Blaue Kreuz – machen wir dieses Engagement in der Gesellschaft sichtbar!

Quelle: Blaues Kreuz 6/2023