Kochen ohne Alkohol?

Gesundes und genussvolles Essen und Trinken sind wichtiger Bestandteil einer stationären Therapie in der auf Suchterkrankung spezialisierten Klinik Südhang im Kanton Bern. Hier wird grosser Wert auf eine schmackhafte und abwechslungsreiche Zubereitung der Speisen gelegt – und natürlich ohne Alkohol gekocht. Hannes Vogel, der langjährige Küchenchef der Klinik Südhang, erzählt, wo die Hürden sind und mit welchen Tricks sie sich überwinden lassen.

Hannes Vogel [1], ist eine alkoholfreie Küche überhaupt möglich?
Es kommt darauf an, was unter «alkoholfrei» verstanden wird. Eine alkoholfreie Küche stellt keine grosse Schwierigkeit dar, eine Küche absolut ohne Restalkohol hingegen ist fast nicht möglich. Laut Lebensmittelverordnung gilt als alkoholfrei, was nicht mehr als 0,5 Volumenprozent Alkohol enthält. Es versteht sich also von selbst, dass «alkoholfrei» nicht immer «ohne Alkohol» bedeutet. Übrigens muss der Alkoholgehalt erst ab 1,2 Volumenprozent auf dem Etikett deklariert werden.

Es hat also in Lebensmitteln Alkohol, ohne dass dies auf der Verpackung steht?
Ja, so ist es. Man muss sich vor Augen halten, dass Alkohol auch bei natürlichen Prozessen entsteht. Ich denke da an alle Hefeteige, zu denen zum Beispiel auch der Pizzateig gehört. Durch Hefe, Mehl, Wasser und die benötigte Wärme entsteht ein Gärungsprozess, der Alkohol produziert. Durch das Kochen und Backen verdunstet zwar der Alkohol wieder, ein Restbestand bleibt aber erhalten.

Gibt es noch weitere Beispiele von verstecktem Alkoholgehalt?
Alkohol ist auch in allen Nahrungsmitteln drin, die in irgendeiner Weise Essig enthalten, etwa Salatsaucen, Mayonnaise, Senf, Essiggurken, Silberzwiebeln und so weiter. Die Nahrungsmittelindustrie setzt zudem Alkohol als Konservierungsmittel ein, um Lebensmittel länger haltbar zu machen. Vorgefertigter Kuchenteig wird vor dem Verpacken mit Alkohol besprüht, damit er möglichst lange verkauft werden kann. Zu deklarieren ist dieser Alkohol nicht, weil im Teig selber kein Alkohol beigesetzt wurde. Trotzdem ist der Alkohol natürlich nachweisbar.

Was bedeutet das für Ihre Küche?
Wir wollen den Rest-Alkoholgehalt so gering wie möglich halten und trotzdem schmackhafte Speisen präsentieren. Das ist manchmal ein Spagat. Die Zugabe von Wein und Spirituosen beim Kochen ist aber ein absolutes Tabu.

Ein Risotto ohne Weisswein geht das wirklich?
Ein feines Essen sollte alle Geschmacksrichtungen – süss, salzig, sauer, bitter – gut ausbalanciert treffen. Alkohol trägt in den Speisen in erster Linie zum Säuregehalt bei. Grundsätzlich lassen sich Wein und Spirituosen beim Kochen durch Zitronen- und Limettensaft oder Obstessig ersetzen. Wird ein Risotto mit Gemüse- oder Hühnerbouillon abgelöscht und mit ein paar Spritzern Zitronensaft, Limettensaft oder Obstessig versehen, entfaltet das ähnliche Wirkung wie mit Weisswein. Wie aber bereits erwähnt, enthält Essig Alkohol. Aufgrund des hohen Säuregehalts im Essig wird zum Kochen jeweils nur ein kleiner Spritzer benötigt, der Restalkohol im fertigen Gericht ist deshalb sehr gering.

Und die Rotweinsauce ohne Rotwein?
Rotwein kann mit der gleichen Vorgehensweise durch Apfel-Balsamico oder Birnenessig ersetzt werden. Um die Geschmacksvielfalt zu erreichen, trägt auch die Anwendung verschiedener Kräuter bei. Aber bei Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung spielt nicht nur der tatsächlich vorhandene Alkohol eine Rolle, im Suchtgedächtnis ist auch der Geschmack gespeichert. Aus diesem Grund ist es wichtig, auf Weiss- und Rotwein zu verzichten, obwohl der Alkohol je nach Garzeit fast vollständig verdunstet.

Eine Speise oder ein Drink kann nach Alkohol schmecken, obwohl absolut kein Alkohol darin enthalten ist?
Ein Patient gab mir einmal die Rückmeldung, in unserem Tiramisù sei offenbar Orangenlikör drin. Er habe ihn deutlich geschmeckt, und dies habe bei ihm «Craving», also Suchtdruck ausgelöst. Natürlich hatten wir das Dessert ohne Likör hergestellt, aber die frischen Orangenraspeln zusammen mit Espresso und Zitronensaft haben ihn geschmacklich daran erinnert.

Gibt es noch mehr solcher Beispiele?
Der Geschmack von Wachholder in Sauerkraut kann etwa an Gin erinnern. Wir empfehlen unseren Patienten und Patientinnen, auf solche Anzeichen zu achten und allenfalls die entsprechenden Nahrungsmittel in den Speisen wegzulassen oder ganz darauf zu verzichten, damit das Suchtgedächtnis nicht aktiviert wird.

Und wie steht es mit dem Drink ohne Alkohol?
Es kann Spass bereiten, selbst alkoholfreie Drinks auszutüfteln. Im Internet und in Büchern gibt es viele kreative Rezepte. Bei unseren Apéros im Südhang bieten wir immer verschiedene Kreationen an, die bei den Leuten sehr gut ankommen. Auf der Südhang-Website sind übrigens einige Rezepte aufgeschaltet. Manchmal muss es gar nicht kompliziert sein: Schon Wasser mit Zitronenscheiben und Pfefferminzblättern ist erfrischend und schmeckt wunderbar.

Wissen und Geniessen

In der Klinik Südhang kann das Geniessen wieder erlernt werden: Im Genusstraining wird bewusst das aktive Geniessen, das Riechen und Schmecken sowie das achtsame Essen eingeübt. Unter den Basisinformationen zur Sucht erhalten die Patienten und Patientinnen das nötige Wissen und die wichtigsten Tipps für eine gesunde, ausgewogene und alkoholfreie Ernährung. Mehr Information finden Sie auf www.suedhang.ch.

Selbsttests, Merkblätter, Spiele und eine Fülle an Informationen über gesundes Essen finden Sie auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung: www.sge-ssn.ch.

[1] Dieser Text ist dem Magazin Der Südhang der auf Suchterkrankung spezialisierten Klinik Südhang entnommen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Klinik Südhang.

 

Quelle: Blaues Kreuz 2/2021