«Wir waren gefordert, klarer aufzuzeigen, was wir im Einzelnen leisten, um das Profil der psychosozialen Beratung zu schärfen»

Letzten September sind die Fachstelle für Alkohol- und Suchtprobleme des Blauen Kreuzes Bern-Solothurn-Freiburg und das Ambulatorium der Klinik Südhang in der Stadt Bern gemeinsam an einen neuen Standort gezogen. Zusammen bieten sie Suchtbetroffenen ein komplettes Angebot an. Wie funktioniert die Zusammenarbeit? Der Bereichsleiter Beratung + Therapie und stellvertretende Geschäftsführer des Blauen Kreuzes Bern-Solothurn-Freiburg, Mike Sigrist, beantwortet unsere Fragen.

Blaues Kreuz: Herzliche Gratulation zum Umzug. Sind schon alle Kartonschachteln ausgepackt?

Mike Sigrist: Nein! (lacht) Wir haben die Beratungstätigkeit rasch wieder aufgenommen, es gibt aber noch einiges zu tun. Ziel ist es, dass sich die Klientinnen und Klienten, aber auch das Beratungsteam wohl fühlen, denn das überträgt sich auf die Qualität der Beratung.

Wie seid ihr organisiert?

Es gibt drei Teams: das Blaukreuz-Team, das Südhang-Team und die Vereinigung der beiden Teams. Wir haben nicht fusioniert, sondern bleiben zwei unabhängige Organisationen. Die Arbeit unter einem Dach soll aber Synergien fördern; es braucht noch etwas Zeit, bis dieses Zusammenleben Früchte trägt. Anfangs hatten wir eine Reihe von Treffen und gemeinsamer Zeit geplant, mussten dann aber erkennen, dass aufgrund der hohen Arbeitsbelastung weit weniger möglich war als ursprünglich vorgesehen. Unsere Kulturen unterscheiden sich deutlich. Während für das Südhang-Team jede Minute Geld kostet, in der kein Patient behandelt wird, verfügen wir über ein Pauschalbudget und sind es gewohnt, alle Mitarbeitende einzubeziehen und die Dinge auszudiskutieren.

Sind die Teams bereits vollständig?

Ja. Wir sind fünf Beratende. Beim Südhang arbeiten gegen fünfzehn Personen, meist Ärztinnen und Ärzte. Diese sind aber nur teilzeitlich im Ambulatorium tätig. Es gibt im Suchtbereich zu wenig Ärzte, weshalb diese häufig an mehreren Orten wirken, beispielsweise zusätzlich als Belegärzte oder an einer Heroinabgabestelle. Im Durchschnitt arbeiten etwa fünf Südhang-Mitarbeitende gleichzeitig im Ambulatorium. Somit sind unsere Präsenzteams ungefähr gleich gross.

Du hast den Umzug des bernischen Blauen Kreuzes geleitet, arbeitest selbst aber in Langenthal. Hat sich das bewährt?

Wir befassen uns schon seit rund fünf Jahren mit integrierter Versorgung. Sie ist überall im Suchtbereich ein Thema. Bisher ist dieser Ansatz nicht unbedingt zum Vorteil der psychosozialen Beratung ausgefallen, weil oft der medizinische Teil dominiert. Wir sagten uns, anstatt zu warten, bis wir dazu gezwungen werden, suchen wir besser selbst ein Modell dafür. In Biel arbeiten wir schon seit längerem mit dem Südhang zusammen. Die Organisation fragte uns dann für Bern an, unter anderem, weil sich deren bernische Tagesklinik mit Ambulatorium in einer Liegenschaft befand, die abgerissen werden sollte. Das beschleunigte alles, wir mussten uns innert weniger Monate entscheiden, ob wir unsere Fachstelle in der Berner Altstadt an einen gemeinsamen Standort verlegen wollten.

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Wie ist die Idee einer integrierten Versorgung aufgekommen?

Der Vorschlag kam aus der Politik, sie ist aber auch aus fachlicher Sicht sinnvoll.

Ging es um Kosteneinsparung?

Ja, und zwar im gesamten Gesundheitsbereich. An den Schnittstellen zwischen einzelnen Institutionen kommt es zwangsläufig zu Reibungsverlusten. Im Suchtbereich gilt das biopsychosoziale Modell, das bedeutet, dass Sucht den Menschen als Ganzes betrifft. Es gibt keine Disziplin, die allein alle erforderlichen Therapien anbietet. Aus fachlicher Sicht geht es in erster Linie um eine verbesserte Versorgung.

Das ruft nach einer engeren Kooperation …

Genau. Diese hat es schon immer gegeben, mit ambulanten und stationären suchtmedizinischen Angeboten, ambulanten psychosozialen Angeboten und der Arbeitsintegration. Wir bilden nun gemeinsam die gesamte Bandbreite ab. In Anbetracht der zunehmenden Medizinalisierung der Suchtarbeit ist eine solche Zusammenarbeit für das Blaue Kreuz eine Chance.

Wie gestaltet sich die Kooperation mit dem Südhang konkret?

Sie orientiert sich am Klienten beziehungsweise am Patienten. Es ist klar definiert, wann wir einander Personen zuweisen. Es gibt zwar nach wie vor Personen, die sich nur im Südhang oder nur bei uns aufhalten. Die Fälle werden aber immer komplexer. Das heisst, es gibt immer mehr Klientinnen und Klienten, die Angebote beider Institutionen in Anspruch nehmen. Befindet sich jemand in der falschen Institution, werden die Ressourcen falsch eingesetzt. Wir überlegen uns deshalb bei jeder Person, welche Institution besser zu deren aktuellen Bedürfnissen passt.

In welchem Fall überweist ihr eine Klientin oder einen Klienten an den Südhang?

Da ist zum Beispiel jemand, der/die einen ambulanten Alkoholentzug machen will, weil er/sie zu viel trinkt. In diesem Fall empfehlen wir eine medizinische Abklärung im Südhang. Auch bei einem psychiatrischen Problem ist der Südhang die passende Adresse.

Und wann schickt der Südhang Personen zu euch?

Zum Beispiel, wenn jemand für eine Therapie zu wenig motiviert ist und daher eine Begleitung braucht oder wenn psychosoziale Probleme im Vordergrund stehen. Die psychosoziale Beratung deckt mehr Themen ab als eine Therapie. Eine weitere Stärke unseres Angebots ist die Betreuung der Angehörigen. Auch sie sind bei uns am richtigen Platz. Wir machen übrigens grundsätzlich nur Vorschläge. Der Entscheid über den nächsten Schritt liegt bei der Klientin und dem Klienten.

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Was unternehmt ihr über die Zuweisungen hinaus, damit eure Teams voneinander lernen können? Gibt es Anlässe für den fachlichen und persönlichen Austausch?

Viel Austausch geschieht informell. Überweisungen werden einfacher, wenn man den Partner und dessen Angebote kennt und wertschätzt.

Habt ihr euch überlegt, an der Schnittstelle zwischen beiden Institutionen noch aktiver zu werden?

Es ist immer eine Herausforderung, sich dafür neben der Haupttätigkeit Zeit zu nehmen.

Würden zwei bis vier gemeinsame Veranstaltungen jährlich nicht drinliegen, zum Beispiel in Form von Weiterbildung?

Dieser Ansatz klingt interessant. Wir würden es gern machen, müssen aber auch auf den Zeitaufwand achten.

Welche Einwände gab es beim Blauen Kreuz gegen den Zusammenzug?

Es gab tatsächlich Befürchtungen. Wir fragten uns beispielsweise, ob wir neben einem medizinischen Partner bestehen könnten.

Was meinst du mit «bestehen»?

Dem medizinischen Bereich stehen mehr Ressourcen zur Verfügung als uns. Es gab Befürchtungen, dass die Zuweisungen einseitig von uns an den Südhang gehen würden. Gegen den Umzug sprach auch, dass unser früherer Standort in der Berner Altstadt ideal war. Zudem war der Mehrwert einer engeren Zusammenarbeit ungewiss. Entsprechend intensiv waren unsere Diskussionen vor dem Entscheid. Eine Befürchtung war auch, dass die Hemmschwelle der Klientel, uns aufzusuchen, nach dem Zusammenzug höher liegen könnte, weil durch unsere Nachbarschaft zum Südhang die Niederschwelligkeit unserer Angebote gefährdet wäre. Wir waren zudem gefordert, klarer zu definieren und aufzuzeigen, was wir im Einzelnen leisten, um das Profil der psychosozialen Beratung zu schärfen

Haben sich diese Befürchtungen bewahrheitet?

Nach meinem Wissensstand läuft die Zusammenarbeit wirklich gut und auf Augenhöhe. Die Anzahl der Zuweisungen sind auf beiden Seiten in etwa ausgeglichen und unsere Fallzahlen sind gleichgeblieben. Ich betrachte das Ganze bisher als Erfolg. Unser Geldgeber, der Kanton Bern, betrachtet das Modell mit Wohlwollen. So sichern wir auch unsere Zukunft.

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Wo liegen zurzeit die grössten Herausforderungen in der Zusammenarbeit mit dem Südhang?

In der Effizienz der Zusammenarbeit, dem Aufbau von komplementären Angeboten und in gemeinsamen Neuentwicklungen.

Wie beurteilen deine Mitarbeitenden den Umzug heute?

Positiv. Wir alle sind am Lernen, und das braucht Zeit.

Was möchtest du deinem Team mitteilen?

Ich möchte ihm danken, dass es die Komfortzone verlassen und sich auf dieses Abenteuer eingelassen hat. Die Zusammenarbeit bietet neue Möglichkeiten – nutzen wir sie!

Quelle: Blaues Kreuz 1/2023