Françoise Kündig arbeitete über siebzehn Jahre lang beim Blauen Kreuz der Westschweiz (Croix-Bleue Romande). Sie war dort unter anderem für den Sozialbereich zuständig, gründete die Gruppe Espace Femmes und koordinierte die Herausgabe eines Buches mit Berichten von Frauen. Heute ist sie stellvertretende Direktorin und sozialtherapeutische Leiterin sowie Leiterin des ambulanten Sektors der Fondation Esterelle-Arcadie, einer Betreuungseinrichtung für Alkoholkranke in Vevey.
Interview von Laetitia Gern[1]
Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede in der Suchtbetreuung?
Françoise Kündig: Im Grunde genommen gibt es keine Unterschiede. Trotzdem muss man zugeben, dass Männer vielleicht mehr Mühe mit der Selbstreflexion haben. Wenn eine Frau eine Beratung beginnt, ist sie oft eher bereit, sich ihre Schwächen und ihre Schwierigkeiten einzugestehen und aus der Leugnung herauszukommen. Frauen gehen manchmal schneller in die Tiefe. Aber man muss natürlich aufpassen, dass man nicht in Klischees verfällt! Was den therapeutischen Ansatz betrifft, gibt es keine Besonderheiten, ausser, dass es für bestimmte Arten von Problemen oder Kulturen angemessener ist, sich als Frau von einer Frau helfen zu lassen. Bei der Nachsorge sollte man sich allerdings vor dem äusseren Schein in Acht nehmen. Warum versucht eine Person, den Alkoholkonsum zu reduzieren oder aufzugeben? Es ist allzu leicht, voreilige Schlüsse zu ziehen und die andere Person durch seine eigenen Filter, Erwartungen und Vorurteile zu betrachten. Verstehe ich die Bedürfnisse der anderen Person wirklich? Eine persönliche Verbindung, eine therapeutische Beziehung kann es nur geben, wenn ich meine Erwartungen und mein eigenes Erleben zurückstelle und wirklich für mein Gegenüber da bin.
Sie helfen auch Frauen, deren Partner alkoholabhängig ist. Was haben Sie dabei gelernt?
Für Frauen, die sich in der von Ihnen beschriebenen Situation befinden, besteht ein hohes Risiko der Co-Abhängigkeit. Sie können regelrechte Strategien entwickeln, um die Folgen des Alkoholproblems ihres Partners abzuwehren. Viele Frauen fühlen sich einsam, nicht gewürdigt, und manche beginnen, Antidepressiva zu nehmen. Sie tun oft alles, um die Familie zu schützen. Einer der Auslöser für Veränderungen ist oft das Leid der Kinder, das plötzlich zutage tritt. In der Nachsorge versuche ich den Frauen zu zeigen, dass sie die Wahl haben: sich zu bemühen, mit der abhängigen Person zu leben, oder sich von ihr zu lösen. Ich stelle fest, dass die Frauen oft bereit sind, zu bleiben, wenn sie die Beratung beginnen. Es ist wichtig, dass sie sich dessen bewusst sind. Bei der Beratung ist es wichtig, das Leiden zu berücksichtigen und Verhaltensweisen nicht zu verteufeln, so schlimm sie auch sein mögen, etwa Missbrauch, körperliche, verbale, wirtschaftliche, psychische oder finanzielle Gewalt. Natürlich hilft es auch nicht, diese Verhaltensweisen als normal zu betrachten oder zu verharmlosen. Es ist wichtig, dass Frauen erkennen, dass sie nicht allein sind.
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Gibt es Hebel, um die Situation zu ändern?
Ich treffe oft Frauen, die dazu neigen, ihre Ehemänner zu bemuttern. Manchmal stelle ich ihnen dann die folgende Frage: «Ist Ihr Mann wirklich daran interessiert, aus der Sucht herauszukommen?» Ich bin mir bewusst, dass diese Frage für sie als «böse» rüberkommen kann. Ich glaube aber, dass sie diesen Frauen wirklich helfen kann. Auch sie selbst können ihren Partnern helfen, wenn sie den Eindruck erwecken, «böse» zu sein. Ich hatte eine Patientin, die ihren Mann, einen Manager, verdächtigte, alkoholabhängig zu sein. Irgendwann sagte ich zu ihr: «Alkohol, Sucht ... aber was können Sie selbst ändern?» Nach und nach setzte sie Dinge in Bewegung und lernte, Grenzen zu setzen. Zunächst weigerte sie sich, im selben Zimmer wie ihr Mann zu schlafen, wenn er getrunken hatte, oder ihn zu feuchtfröhlichen Abenden unter Freunden zu begleiten. Das wurde zu einem Problem für ihn, und er fing eine Suchtberatung an und vereinbarte einen Termin bei einem Ernährungsberater. Ich traf diese Frau etwa drei Jahre später wieder, und die Dinge hatten sich tatsächlich zum Guten gewendet. Wenn man in einem Paar mit dem einen arbeitet, kann man damit manchmal auch den anderen «bewegen». In manchen Kulturen ist es jedoch nicht möglich, Hilfe zu suchen, wenn das Problem beim Partner liegt.
Sind Ihnen auch Männer als Angehörige einer alkoholabhängigen Person begegnet?
Ja. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Mann, der sich wegen der Gewalttätigkeit seiner alkoholabhängigen Frau in die Beratung begab. Er sagte, man höre ihm nicht zu und behauptete, er müsse sich verteidigen, aber als die Polizei kam, wollten sie nicht glauben, dass die Gewalt von der Frau ausging, und weigerten sich, ihm zu helfen. Trotz diesen gesellschaftlichen Vorstellungen erkannten die Polizeibeamten schliesslich, dass er die Wahrheit sagte, als sie die Frau dabei erwischten, wie sie mit Küchenpfannen auf ihren Mann einschlug. Oder ich denke an einen anderen Mann, der co-abhängig war. Er war es, der sich darum kümmerte, den Vorrat an Flaschen aufzufüllen und so für Nachschub zu sorgen. Er sagte, er habe Angst vor dem Bild, das seine Frau vor allem bei den Nachbarn abgeben könnte, wenn sie den Alkohol kaufen würde.
Sehen Sie geschlechtsspezifische Unterschiede bei Paaren, die von Alkoholabhängigkeit betroffen sind?
In der Suchtszene werden gelegentlich die folgenden aussagekräftigen Zahlen genannt: 90 Prozent der Männer, die mit der Alkoholsucht ihrer Partnerin konfrontiert werden, flüchten. Im Gegensatz dazu bleiben 90 Prozent der Frauen in der gleichen Situation bei ihrem süchtigen Partner. Das mag heute anders sein, aber ich denke, dieser Trend ist immer noch zu beobachten. Woran liegt das? Wenn ich eine Erklärung wage, würde ich sagen, dass die Rolle des Beschützers einen hohen Stellenwert in der Erziehung der Männer und wahrscheinlich auch in ihrer Identität hat. Wenn sie jedoch mit dem Leid einer suchtkranken Frau konfrontiert werden, fühlen sie sich hilflos. Anstatt sich dem Problem zu stellen, neigt der Mann dann dazu, wegzulaufen, weil er nicht weiss, wie er reagieren soll. Frauen neigen eher dazu, eine mütterliche Seite zu entwickeln und diejenige zu sein, die sich um die andere Person kümmert. Daher bleiben viele Frauen an der Seite eines alkoholabhängigen Mannes, mit all den Schwierigkeiten, die das mit sich bringen kann.
[1] Laetitia Gern ist Kommunikationsverantwortliche beim Croix-Bleue romande. Dieses Interview erschien zuerst auf Französisch im August 2021 im Westschweizer Blaukreuz-Magazin Exister. Abdruck der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Croix-Bleue Romande.
Quelle: Blaues Kreuz 3/2022
