Die grosse Ernüchterung

1909 wurde Opium für gefährlich erklärt. Die Drogenverbote, die folgten, wirken bis in die Gegenwart.

Von Helena Barop[1]

Drogen gehören verboten – bis vor kurzem war das für viele eine unumstössliche Selbstverständlichkeit. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte von Prohibitionssystemen, dass diese alles andere als unumstösslich sind: Das bekannteste Beispiel ist die Alkoholprohibition in den USA, die 1920 mit grossen Hoffnungen auf eine nüchternere Zukunft begann und 1933 endete. Es hatte sich herausgestellt, dass der Staat Alkohol zwar verbieten konnte, es ihm aber unmöglich war, dieses Verbot überall im Land wirksam durchzusetzen. So durften die Kneipen ab den 1930er Jahren wieder Wein und Bier ausschenken, die illegalen Flüsterkneipen schlossen und die Schmuggler, illegalen Schnapsbrenner und Braumeister, die sich in den Zwanzigern goldene Nasen verdient hatten, wurden arbeitslos.

Seit mehreren Jahren verbreitet sich der Eindruck, dass auch die Drogenprohibition kaum ihren Zweck erfüllt. Das Cannabisverbot wird zunehmend infrage gestellt. In einzelnen Ländern bröckeln die Drogenverbote. In den USA ist der Konsum von Cannabis in bestimmten Bundesstaaten legal. Die deutsche Bundesregierung hat die Legalisierung von Cannabis angekündigt, und auch in der Schweiz laufen Pilotprojekte zur legalen Abgabe von Hanfprodukten. Psychedelische Drogen werden auf einen möglichen Einsatz in der Psychotherapie untersucht, und Heroin wird als wirksames Medikament für die Palliativmedizin diskutiert.

Gleichzeitig bleiben Drogen ein Problem. Zahlreiche Menschen leiden unter Substanzabhängigkeiten, in den USA fordert die Opioidkrise jährlich tausende Todesopfer. Entlang der Lieferketten sterben unzählige Menschen an den Folgen einer Drogenökonomie, die Milliarden in die Taschen krimineller Organisationen pumpt. Drogenmärkte destabilisieren seit Jahrzehnten ganze Staaten – Mexiko und Afghanistan sind nur die bekanntesten Beispiele.

Woher kommen Drogenverbote?

Während Regierungen angesichts der gescheiterten Verbotspolitik nach neuen Lösungen suchen, lohnt sich ein Blick zurück: Woher kamen die Drogenverbote überhaupt? Geboren wurde die Drogenprohibition im Februar 1909. Damals trafen sich im Peace Hotel in Shanghai 38 Delegierte aus 13 Ländern, um sich darüber zu verständigen, wie man in Zukunft mit Opium umgehen sollte. Ihre Entscheidungen prägen die Drogenpolitik bis heute.

-> die Arbeit des Blauen Kreuzes unterstützen

Opium wird aus der Schlafmohnpflanze gewonnen, es wirkt schmerzlindernd, berauschend und angstlösend. Regelmässiger Konsum kann jedoch körperlich abhängig machen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert kann aus Opium Morphium hergestellt werden, dessen Wirkung und Suchtpotenzial weitaus grösser sind. 1909 beschloss die US Regierung deshalb, dass Opium nicht nur ein pharmazeutisches Produkt, sondern auch ein internationales Problem sei, und lud zur Opiumkonferenz in die internationale Zone von Shanghai. Unter den Delegierten herrschte allerdings keineswegs Einigkeit darüber, wie Opium zu bewerten sei, auch eine gemeinsame Vorstellung von einem «Drogenproblem» sucht man in den Verhandlungsprotokollen vergeblich. Die Positionen der drei wichtigsten Verhandlungspartner – China, Grossbritannien und die USA – zeigt, dass die Situation zu Beginn der Verhandlungen völlig offen war.

In China war Opium ursprünglich als Heilmittel bekannt. Seit dem 16. Jahrhundert wurde das Schlafmohnprodukt auch in der Pfeife geraucht – eine berauschende und suchtbildende Praxis, die westliche Händler mitgebracht hatten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann Grossbritannien, diesen Opiumkonsum auszunutzen und Opium aus Britisch-Indien nach China zu verkaufen. Das Empire konnte so sein Handelsdefizit mit China ausgleichen, denn es importierte massenweise Porzellan, Tee und Seide aus China, ohne seinerseits etwas für den chinesischen Markt zu produzieren; grosse Mengen britischen Silbers flossen nach China ab. Als sich China gegen den Opiumimport aus der britischen Kolonie wehrte, machte Grossbritannien während der Opiumkriege klar, dass es sich den Handel nicht verbieten liess, und zwang China militärisch, die Lieferungen anzunehmen. Nach der chinesischen Niederlage wurde das Opiumrauchen zu einem integralen Bestandteil der chinesischen Alltags- und Freizeitkultur.

Als sich 1909 die Opiumkommission von Shanghai versammelte, war China gerade dabei, sich erneut gegen diese Situation zu wehren. Nach Jahrzehnten der imperialen Erniedrigung hatte eine Reformbewegung an Dynamik gewonnen, die China stärken und aus den internationalen Abhängigkeiten befreien wollte. Im Zentrum der Reformbewegung stand eine Anti-Opium-Kampagne: China solle sich selbst auf Entzug setzen und sich so den erzwungenen britischen Opiumlieferungen entziehen. In diesem Sinne argumentierten denn auch die chinesischen Delegierten in Shanghai. Sie verlangten eine strenge Kontrolle des internationalen Opiumhandels und plädierten dafür, dass Opium nur dort eingeführt werden sollte, wo sein Konsum legal war.

Die Rolle der Vereinigten Staaten

Dagegen argumentierten die britischen Delegierten. Sie wollten den indisch-chinesischen Opiumhandel am Laufen halten und plädierten für freie internationale Opiummärkte. Das konnten sie vor allem deshalb tun, weil Opium auf den britischen Inseln in erster Linie als Heilmittel bekannt war. Zwar wurde auch hier der schmerzstillende Stoff aus der Apotheke mitunter als Rauschmittel verwendet, und besorgte Stimmen warnten vor Sucht und Ausschweifung. Doch das gesellschaftliche Problembewusstsein reichte nicht aus, um die wirtschaftlichen Erwägungen in den Hintergrund zu drängen.

Was ein Streit zwischen London und Peking hätte bleiben können, wurde 1909 Gegenstand der internationalen Politik, weil sich die USA in die Sache einmischten. Eine bunte Koalition aus Moralisten, religiösen Gruppierungen und Sozialreformern verteufelte in den USA Rauschmittel und Ausschweifungen aller Art und warb für einen nüchternen Lebenswandel. An der Westküste verbreitete sich ausserdem die Angst vor der «gelben Gefahr», also vor chinesischen Einwanderern, die als Arbeitsmigranten gekommen waren und in den Chinatowns ihre Opiumpfeifen rauchten. 1898 kam das Opiumproblem auf den Philippinen hinzu: Seit dem amerikanisch-spanischen Krieg waren die Philippinen eine amerikanische Kolonie, und so musste sich Washington mit der chinesischen Bevölkerungsgruppe auseinandersetzen, die dort unter spanischer Herrschaft legal ihr Opium hatte rauchen dürfen.

-> die Arbeit des Blauen Kreuzes unterstützen

Schon bald wurde entschieden: Auf amerikanischem Boden ist Opiumrauchen nicht erwünscht. Namhaften Einfluss auf das Verbot hatte ein Geistlicher namens Charles Brent. Der Bischof der Episkopalkirche auf den Philippinen war überzeugt, dass man die philippinische Bevölkerung vor dem «Opiumübel» schützen müsse. Bald merkte er, dass ein solches Verbot auf den über 7000 philippinischen Inseln kaum durchzusetzen war, solange in benachbarten Ländern der Opiumhandel weiter florierte. Also lobbyierte er für strengere internationale Opiumgesetze. Brent war es, der dem amerikanischen Aussenminister vorschlug, eine Opiumkommission einzuberufen. Er leitete auch die Verhandlungen in Shanghai.

In bilateralen Verhandlungen setzten üblicherweise die Mächtigeren ihre Interessen durch, das wäre damals das britische Empire gewesen. Doch die in Shanghai gegründete Opiumkommission funktionierte nach den Spielregeln der Haager Friedenskonferenzen und entwickelte eine neue Dynamik: Moralische Argumente entfalteten hier eine ungewohnte Wirkung. Obwohl die britische Delegation äusserst geschickt vorging, gelang es Brent und seinen Verbündeten, Resolutionen durchzusetzen, die in der Folge den Grundkonsens der internationalen Drogenpolitik bildeten.

Zentral war vor allem die dritte Resolutionen: Sofern der Gebrauch von Opium nicht medizinischen Zwecken diene, sei Opium zu verbieten oder zu regulieren. Mit dieser Formulierung war die Prohibition geboren, und bis heute ist die medizinische Indikation das Kriterium, nach dem in den meisten Drogengesetzen legaler von illegalem Drogenkonsum unterschieden wird.

Ein weltweites Verbot

Auf Grundlage dieser Richtungsentscheidung bauten Regierungen in den meisten Ländern der Welt im Lauf des 20. Jahrhunderts Prohibitionssysteme auf und sicherten sie über internationale Verträge und Organisationen ab. Mit Verzögerung setzte sich so die spezifisch amerikanische Sichtweise auch in anderen Ländern durch. Dass die Verbote nicht die gewünschte Wirkung entfalteten, hinderte die einzelnen Regierungen nicht daran, an ihnen festzuhalten – auch weil internationale Verträge sie an den Konsens von Shanghai banden.

Die Geschichte zeigt, dass Drogenverbote das Ergebnis politischer Entscheidungen sind, und dass diese Entscheidungen unter konkreten Bedingungen gefällt wurden. Was für die Delegationen von Shanghai eine Rolle spielte, hat allerdings nicht mehr viel mit unserer heutigen Situation zu tun. Diese Erkenntnis gibt uns die Möglichkeit, freier auf die Gegenwart zu schauen. Es gilt neu zu fragen, was man aus wissenschaftlicher Sicht über Drogen und ihre Gefahren weiss und welche Alternativen sich zur Verbotspolitik anbieten.

Quelle: Blaues Kreuz 3/2023

1 Helena Barop ist Historikerin und freie Publizistin.2021 erschien bei Wallstein ihr Buch «Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA, 1950–1979». Der vorliegende Artikel wurde in ähnlicher Fassung in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 29. August 2022 publiziert. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der NZZ.