Seit ich mich erinnern kann, führte ich mehrere Leben. Oft gerieten diese Leben in einen ernsthaften Konflikt miteinander. Als Kind war ich stets darauf bedacht, meine suchtkranken und depressiven Eltern zu entlasten. Ich war bestrebt, ihr schwieriges Leben nicht noch schwieriger zu machen. Jahrelang habe ich meine Eltern belogen. Nicht aus Bosheit oder Kalkül, sondern aus Angst. Und so log ich immer dann, wenn ich ihnen etwas Belastendes über mich hätte mitteilen sollen: schlechte Noten, Konflikte mit Schulkameraden, Zurechtweisungen eines Lehrers oder des Dorfpolizisten. Immer mehr wurde ich zum Gefangenen meiner Angst, des Drucks und meiner Lügenkonstrukte.
Im Jugendalter versuchte ich, mich zu befreien. Und entdeckte den Alkohol. Er beruhigte mich, nahm die Angst und den Druck von mir. Es folgten Drogen. Jede Substanz diente scheinbar einem anderen Zweck. Genau genommen hatten aber alle dasselbe Ziel: meine Selbstentfremdung.
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Ich war erneut gefangen. Ich log, führte mehrere Leben. Karriere, Beziehungen und Gesundheit waren sekundär. Die Befriedigung der Sucht stand an erster Stelle. Beschaffung und Deckung des Drogenbedarfs beherrschten mein Leben. Die ersten Gedanken beim Aufwachen, die letzten Gedanken vor dem Einschlafen drehten sich um Suchtmittel, um Konsum, um Betäubung, um Rausch. Das Zermürbende daran war, dass sich dieser Rausch nicht mehr so gut anfühlte wie in meiner Erinnerung. Meine Sehnsucht, eine längst vergangene Erfahrung wieder aufleben lassen zu können, war eine grosse Illusion. Die Gedanken an Erlebnisse, die sich unvorstellbar tief ins Gedächtnis eingebrannt hatten, so tief und so stark, dass alle anderen Erinnerungen an Bedeutung verloren und verblassten, bestimmten mein Leben.
Seit elf Jahren lebe ich abstinent. Die Sucht, die beinahe mit dem Tod endete, sollte nicht länger mein Leben bestimmen. Die Angst, meine treue Begleiterin, durfte langsam von mir weichen. Dieser Prozess der Loslösung wurde zu meinem Lebensprojekt. Ich änderte viele Dinge, legte manches ab, entdeckte anderes wieder. Ich erkannte, dass selbst kleinste Veränderungen im Alltagskonzept den Anfang einer tiefgreifenden Verwandlung bedeuten können. Zu Beginn konnte es genügen, mir beim Aufstehen bewusst zu machen, woran ich gerade dachte. Sind die ersten Gedanken des Tages bereits negativ gefärbt und nehmen wir diese Negativität bewusst wahr, können wir gegensteuern, unsere Aufmerksamkeit auf etwas Erfreuliches lenken. Und damit beginnen wir den Tag. Wir können uns darin üben, das Duschen so bewusst wie möglich wahrzunehmen und zu geniessen. Das wärmende Wasser, den Duft der Seife, die Vitalität unseres Körpers. So wird aus der unspektakulären Routine ein Erlebnis. Und ganz allmählich wird aus der Gewohnheit ein Bewusstsein.
Immer wieder protokolliere ich meinen Gemütszustand, versuche herauszufinden, wo ich stehe. Meist haben kleine Stimmungsschwankungen einen einfachen Ursprung: Habe ich genug Wasser getrunken? Atme ich zu flach? Bin ich müde?
Vor einigen Jahren geriet mein Selbstbild ins Wanken. Ich bezeichnete es als akute Identitätskrise. Heute weiss ich, dass dies ein Teil meines Entwicklungsprozesses war. Inzwischen habe ich erkannt, dass dieses Selbstbild lediglich eine gedankliche Manifestation meines Verstandes, meiner Glaubenssätze und meiner Konditionierung war. Je mehr ich versuchte, diese Manifestation zu schützen, desto weiter entfernte ich mich von mir selbst.
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Die Identitätskrise habe ich längst überwunden. Ich identifiziere mich nicht mehr mit Glaubenssätzen, Errungenschaften und Gegenständen. Sie sind Werkzeuge, Hilfsmittel, Orientierungshilfen, ansonsten aber bedeutungslos. Ich gehe tiefer in das Wesen, das ich bin. Es atmet, es liebt, es empfindet Dankbarkeit und Freude an den alltäglichen, unfassbaren Wundern wie Blumen, Bäumen, Insekten, Sonnenuntergängen, die wir so leicht und so oft übersehen.
Quelle: Blaues Kreuz 2/2022
