«Die Gewalt fängt nicht an, wenn einer einen erwürgt. Sie fängt an, wenn einer sagt: ‹Ich liebe dich: Du gehörst mir.›»Mit diesem Zitat des österreichischen Lyrikers Erich Fried (1921-1988) eröffnen die Referentinnen Susanne Nielen Gangwisch und Anja Derungs den zweiten Teil des vom Blauen Kreuz Schweiz organisierten Tages-Workshops.«Sucht und Gewalt haben miteinander zu tun», stellt Susanne Nielen Gangwisch klar. Sie ist seit über 25 Jahren in der Opferhilfe tätig, zurzeit als Stellenleiterin der Opferberatung im Kanton Aargau. In jedem zweiten Opferhilfe-Beratungsgespräch sei Sucht ein Thema, betont sie. Die Opferhilfestatistik verzeichnet jährlich 49055 Beratungen wegen häuslicher Gewalt in der Schweiz.
Die Nachfrage steigt seit Jahren kontinuierlich. Die Mehrheit der Opfer wendet sich jedoch nicht an eine Opferberatungsstelle. Somit ist von einer sehr hohen Dunkelziffer auszugehen.Wann handelt es sich um einen Opferhilfe-Fall? Anhand von einem Dutzend Fallbeispielen sind die rund 20 Beraterinnen und Berater am Workshop aufgefordert, zu triagieren und ihre Einschätzung zu begründen.
Was sollen Beratende tun?
Eines dieser Praxisbeispiel lautet: Eine Frau kommt wegen der Suchtproblematik ihres Mannes zu einer Beraterin des Blauen Kreuzes. Im Gespräch erzählt sie, dass ihr Mann
sie und die gemeinsamen zwei Kinder wiederholt geschlagen habe.Was kann und was muss die BlaukreuzBeraterin tun? Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit die Opferhilfe zuständig ist? «Wir können uns sehr schnell zuständig erklären», nimmt Susanne Nielen Gangwisch vorweg.
Eine Straftat müsse (noch) nicht erwiesen sein, es reiche, wenn sie in Betracht gezogen worden sei. Ein Kriterium sei die Verletzung der psychischen, physischen oder sexuellen Integrität und daraus folgend eine unmittelbare Beeinträchtigung. Dies sei beim oben genannten Beispiel gegeben – somit ist die Opferhilfe zuständig. Häusliche Gewalt sei an sich keine Straftat. Es brauche Nötigung und/oder physische/sexuelle Gewalt, unterstreicht Susanne Nielen Gangwisch.
Meldung an die KESB
Die Blaukreuz-Beraterin solle der Frau sofort erklären, dass sie nun Mitwisserin sei und ein Melderecht an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) habe, wenn ein Verdacht auf die Gefährdung des Kindeswohls vorliege. Dies ist beim Praxisbeispiel der Fall. Personen, die berufl ch regelmässig mit Minderjährigen in Kontakt stehen, haben beim Verdacht auf eine Gefährdung des Kindes eine Meldepfl cht, wenn sie die Gefährdung nicht selbst abwenden können.
Die Meldung an die KESB muss im Interesse der Kinder sein, denn das Kindeswohl ist das oberste Gebot der KESB. Es ist wichtig, dass Kindeswohlgefährdungen so früh wie möglich erkannt werden, damit sichergestellt werden kann, dass gefährdete oder misshandelte Kinder schnellen und wirksamen Schutz erhalten. «Also lieber einmal zu viel melden als zu wenig», erklärt Susanne Nielen Gangwisch.
«Die Polizei im Kanton
Zürich hat täglich
rund 20 Einsätze wegen
häuslicher Gewalt.»
Die Aufgaben der Opferhilfe
Der Blaukreuz-Berater kann, die Polizei muss das Opfer darauf hinweisen, dass es Anspruch auf Opferhilfe hat. Was genau tut die Opferhilfe? Sie arbeitet mit anderen Fachstellen im Bereich von häuslicher Gewalt und Kindesschutz zusammen, klärt die Opfer über ihren Schutz und ihre Rechte auf und gewährt ihnen medizinische, psychologische und juristische Soforthilfe. Dazu gehören eine Notunterkunft für maximal 35Tage, der Lebensunterhalt für maximal 21Tage sowie Übersetzungskosten. Manchmal bleibt die Opferhilfe über eine längere Zeit mit dem Opfer in Kontakt, auch bis zur Gerichtsverhandlung. In gewissen Fällen erstattet das Opfer Anzeige. Ob dieser Schritt opportun sei, wird in der Opferhilfeberatung mit dem Opfer besprochen und abgewogen. «Eine Strafanzeige ist immer die Entscheidung des Opfers. Wir beraten es lediglich», erzählt Susanne Nielen Gangwisch.
In einzelnen Fällen rät die Opferhilfe davon ab, Anzeige zu erstatten, nämlich dann, wenn eine Anzeige mit hoher Wahrscheinlichkeit – basierend auf langjähriger Erfahrung der Opferhilfe – für das Opfer kontraproduktiv sei. «Wir sind parteiisch, wir stehen immer auf der Seite des Opfers, das ist unser Auftrag», unterstreicht die Fachfrau. Die Opferhilfe ist in der Schweiz föderalistisch organisiert. Es gibt keine verbindlichen schweizweiten Richtlinien, sondern nur Empfehlungen. «Es kommt darauf an, in welchem Kanton man Opfer wird. Einige Kantone setzen diese schweizweiten Empfehlungen um, andere nicht», so Susanne Nielen Gangwisch. In gewissen Kantonen gibt es getrennte Opfer- und Täterberatung. Ein Workshop-Teilnehmer möchte wissen, ob auch Männer Opfer von häuslicher Gewalt seien. «Ja, aber sehr viel seltener, und sehr viel seltener lebensbedrohlich. Allerdings ist auch da die Dunkelziffer aufgrund der Scham sehr hoch», antwortet Anja Derungs, Geschäftsführerin der Stiftung Frauenhaus Zürich.
Männer hätten in der Regel mehr finanzielle Ressourcen, um sich aus einer solchen Situation zu lösen. Es gibt allgemeine Opferberatungsstellen, die für alle Gewaltopfer zuständig sind. Eine Übersicht bietet die Website www.opferhilfe-schweiz.ch. Gewaltberatungen für Männer in Konfli tund Krisensituationen oder für Männer, die in ihrer Beziehung Gewalt anwenden, bieten beispielsweise auch die «Mannebüros».