Von der Bittstellerin zur Partnerin auf Augenhöhe

Daniel Lüscher kam als Jugendarbeiter zum Blauen Kreuz Bern, wechselte später in die Beratung und führte die Organisation von 1996 bis 2017. Während seiner langjährigen Tätigkeit erlebte er gewisse Entwicklungen wie Professionalisierung, Ausbildungsoffensive, Leistungs- und Wirkungsmessung im sozialen Bereich hautnah mit.

Von Sonja Schmid, Mitglied der Redaktionsgruppe von SozialAktuell und ActualitéSociale[1]

SozialAktuell: Was war Ihnen wichtig, als Sie 1996 in das Blaue Kreuz eintraten, um es zu führen?

Daniel Lüscher: Mir kam entgegen, dass das Blaue Kreuz Bern langsam gewachsen ist und ich mit ihm. Ich fand es wichtig vorauszuschauen, was auf uns zukommt, und auch hinzuschauen, was wir tatsächlich tun. Eine Vertrauenskultur zu schaffen, war für mich zentral. Ich bin überzeugt, dass Mitarbeitende gerne arbeiten und gestalten und Vertrauen verdienen. Ich wurde wenig enttäuscht. Versuchte, stets die Lust an der Gestaltung und an der Leistung, der Innovation vorzuleben. Aber auch zu zeigen, dass der Beruf nicht alles ist. Ich war darauf bedacht, mit Werten zu führen und diese zu diskutieren. Wenn Werte
in der Organisation breit abgestützt sind, erspart dies eine starke Reglementierung.

Mit welchen Herausforderungen waren Sie während Ihrer Geschäftsführung konfrontiert?

Am Anfang stand vor allem die Frage im Raum, wie wir uns finanzieren können. Es gab keine garantierte Finanzierung für unsere Angebote. Wir lernten fundierte Projekteingaben zu machen und damit unsere Angebote zu sichern. Das Generieren von Drittmitteln kam uns auch später, nachdem wir einen Leistungsvertrag mit dem Kanton erhielten, immer wieder zugute. Zusätzlich mussten wir auch auf fachlicher Ebene einen Effort leisten. Da gab es im Blauen Kreuz und überhaupt im Suchtbereich viel Nachholbedarf. Es brauchte viel Information und Aufklärung, bis die Bereitschaft zur Professionalisierung da war. Wir ermöglichten Aus- und Weiterbildungen, bei Neuanstellungen wurde nur noch ausgebildetes Personal gesucht. Meine letzte Herausforderung war die Medizinalisierung und Psychiatrisierung des Suchtbereichs. Mit dem überall herrschenden Spardruck eröffnete das neue Finanzierungsmodell TARPSY[2] für medizinisch geführte Suchtinstitutionen Anreize, in den Bereich des Entzugs und der Entwöhnung zu investieren.

Gemeinsam mit anderen Institutionen haben wir uns aber für den psychosozialen Ansatz stark gemacht, damit Angebote wie die Angehörigenarbeit beibehalten werden konnten. Natürlich aus Eigennutz, aber auch aus Überzeugung.

Welche Meilensteine brachten Ihre Institution weiter?

Dass wir einen Leistungsvertrag mit dem Kanton Bern erhielten. Das war 1999. Der Leistungsvertrag erforderte eine Standardisierung der Arbeit, ein erster Ansatz von Leistungs- und Wirkungsmessung. Früher erhielten wir einfach einen Betriebsbeitrag. Ich habe im Archiv ein altes Formular gefunden. Damals wurden zum Beispiel keine adressatenspezifischen Daten erfragt, wir mussten nur die Autokilometer, die unsere Mitarbeitenden pro Jahr fuhren, ausweisen. Wir verhandelten auch nicht mit Fachleuten des Sozialwesens, sondern mit Buchhaltern. Der Leistungsvertrag war wie ein Paradigmenwechsel. Die Fachorganisation Blaues Kreuz wurde von der Bittstellerin zur Partnerin auf Augenhöhe. Mit dem Leistungsvertrag war der normale Betrieb gesichert, wir haben angefangen betriebswirtschaftlicher zu denken. Trotzdem generierten wir Eigenmittel. Damit konnten wir Innovationen, insbesondere im Nachsorgebereich, tätigen.

Was zeichnete Ihre Organisation aus oder was unterschied sie von anderen Organisationen?

Besonders wichtig für die Organisationsentwicklung schien mir unsere politische Arbeit. Bereits der erste Angestellte des Blauen Kreuzes war im Stadtrat tätig. Es gab immer Schlüsselpersonen im Vorstand oder bei den Mitarbeitenden, die politisch engagiert waren. Dies ermöglicht einerseits, ein Beziehungsnetz in Parlament und Verwaltung aufzubauen. Andererseits lässt sich die Bekämpfung vieler Suchtursachen nur über die Politik steuern. Zum Beispiel die ganze strukturelle Prävention oder die Alkoholgesetzgebung. So hatten wir auch bei allen Sparübungen immer Personen, die unsere Anliegen auf politischer Ebene vertreten konnten.

Das Blaue Kreuz arbeitet auch, im Unterschied zu anderen Organisationen im Suchtbereich, mit zahlreichen Freiwilligen. Aktuell sind im Kanton Bern über 350 Freiwillige beim Blauen Kreuz tätig.

Ja, das ist immer noch eine stattliche Zahl. Ich habe immer Wert auf eine qualifizierte Freiwilligenarbeit gelegt. Fachleute sind nicht per se sensibilisiert und ausgebildet für die Zusammenarbeit mit Freiwilligen. Eine gute Freiwilligenarbeit braucht jedoch professionelle Begleitung. Betriebswirtschaftlich gesehen sind sie natürlich eine kostengünstige Variante. Viele der Suchtpräventionsangebote wie zum Beispiel roundabout könnten ohne die Mithilfe von zahlreichen Freiwilligen nicht umgesetzt werden. Aber wir profitieren auch von den dadurch entstehenden Netzwerken und Beziehungen. Nicht zuletzt sind einige potentielle Verbandsmit-glieder dabei. Viele der Freiwilligen sind auch einfach an einem Projekt interessiert und überhaupt nicht an der Organisation, und das ist auch in Ordnung.

Das Blaue Kreuz ist eine christliche Organisation. Inwiefern ist dies für die Adressatinnen und Adressaten spürbar?

Bei der Überarbeitung des Werteprofils haben wir gemerkt, dass wir unsere Angebote hinsichtlich der Säkularisierung der Gesellschaft verändern müssen. Wir haben versucht, zeitgemässe und niederschwellige Formen von Spiritualität anzubieten. Spiritualität als Ressource zu betrachten und als Resilienz Förderung zu erhalten.

In unserer täglichen Facharbeit war für die Adressatinnen und Adressaten spürbar, dass wir versuchten dranzubleiben. Das haben wir trotz den vielen Sparrunden getan. Es gibt immer Menschen, die eine längere Begleitung benötigen. Ich möchte als Organisation nicht nur das tun, was gut bezahlt wird, sondern auch dort ansetzen, wo Bedarf und Not sind.

 

[1] Dieses Interview erschien zuerst in der Februarausgabe dieses Jahres von SozialAktuell. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von AvenirSocial.

[2] Die Tarifstruktur TARPSY erfasst alle stationären Leistungsbereiche der Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrie.

 

Quelle: Blaues Kreuz 5/2021