Im Jahr 2016 erschien eine Studie, die belegte, dass die bisherigen Studien zum gesundheitsförderlichen moderaten Alkoholkonsum falsch waren. Offensichtlich war bis dahin, dass je mehr eine Person trinkt, desto höher ist ihr Krankheitsrisiko. Nur die Einschätzung für den moderaten Konsum war falsch: Dieser schnitt besser ab als die Abstinenz. Doch Tim Stockwell und Kollegen zeigten 2016, dass der Zusammenhang doch nur linear ist und auch moderater Alkoholkonsum schädlicher ist als Abstinenz. Grund für die früheren Aussagen waren, dass sie die kranken Nichttrinkenden der Gruppe aller Nichttrinkenden zugerechnet hatten. Diese sogenannten kranken Aufhörer («sick quitter») stellte die Abstinenz schlechter dar als sie ist. Jetzt wissen wir: Die Gruppe der Abstinenten hat weniger Krankheitsrisiken als die anderen.
Das gesunde Gläschen Rotwein … gibt es nicht
Zwar sind im Rotwein tatsächlich Substanzen (Polyphenole) enthalten, die zellschützend sind und damit den Blutbahnen guttun, aber die Menge Alkohol (Äthanol), die mit dem Wein aufgenommen wird, macht diese positiven Effekte wieder zunichte. Unter dem Strich ist das tägliche Gläschen Rotwein doch riskant.
Anfang 2023, über fünf Jahre nach Veröffentlichung dieser Studie, reagierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie verabschiedete sich von ihren bisher empfohlenen Trinkmengen, die andere Länder und Fachorganisationen für Alkoholprobleme übernommen hatten – darunter auch das Blaue Kreuz.
Mehrere Länder, darunter Kanada, und Gesundheitsorganisationen wie die deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, arbeiteten neue Empfehlungen aus. In der Schweiz gibt es noch keine offiziellen Empfehlungen.
Das Blaue Kreuz: die Ersten in der Schweiz
Nun passt das Blaue Kreuz als erste Schweizer Organisation seine Empfehlungen zum Alkoholkonsum an. Diese sind leicht verständlich, beruhen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und verhindern viel Leid:
- Das gesündeste Leben ist eines ohne Alkohol.
- Weniger Alkohol trinken ist besser.
- Es gibt Arten, Alkohol zu trinken, die besser sind als andere (langsam trinken, viel Wasser und andere alkoholfreie Getränke zu sich nehmen, vor und während des Alkoholtrinkens essen, die Trinkmenge kontrollieren, eine tiefere Zielmenge festlegen).
- Es gibt Lebensumstände, in denen kein Alkohol getrunken werden sollte (Schwangerschaft, Stillphasen).
- Es gibt Situationen, in denen kein Alkohol getrunken werden sollte (beim Autofahren, bei schwerer körperlicher Arbeit, beim Sport, bei der Einnahme von Drogen und Medikamenten, bei Hitze, bei wichtigen Entscheidungen, in Situationen, in denen man Verantwortung für andere trägt).
- Erwachsene haben eine Vorbildfunktion und sollten diese wahrnehmen.
Das Blaue Kreuz will mit den Empfehlungen alle ansprechen, die ihren Alkoholkonsum überdenken, ihn reduzieren oder sogar ganz aufhören wollen. Auch Leute, die neugierig sind auf Alkoholverzicht, auf Englisch «sober curious», sollen durch die Empfehlungen motiviert werden.
Die Empfehlungen richten sich explizit nicht an alkoholabhängige Personen. Für diese Personengruppen bietet das Blaue Kreuz zum Beispiel im Rahmen seiner Beratungsangebote passende Unterstützung an.
Schäden durch Alkohol
Das Problem ist nicht das Getränk, sondern der darin enthaltene Alkohol. Noch immer ist das physische, psychische und soziale Schadenspotenzial von Alkohol in der Schweizer Bevölkerung zu wenig bekannt. So beeinflusst er die Sinne und Reaktionsfähigkeit, er enthemmt und führt zum Kontrollverlust, und er schädigt die Trinkenden, Schwangerschaften und gestillte Kinder.
Betroffen sind speziell Jugendliche (Adoleszenz), da bei ihnen das Gehirn umgebaut wird und Alkohol bleibende Schäden verursachen kann. Die Fachleute sprechen dabei von vulnerablen, also verletzlichen Gruppen. Es ist auch der Alkohol, der Wasser abführt (Harndrang) und bis zur Austrocknung (Dehydrierung) führen kann. Deshalb können verschiedene Situationen problematisch werden, zum Beispiel das Sporttreiben, schwere körperliche Arbeiten und Hitze. Überall, wo die volle Aufmerksamkeit gefordert ist, ist Alkohol ein Hindernis, sei es beim Aufpassen auf Kinder oder wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen.
Alkohol als Katalysator für Unfälle und Gewalt
Alkohol wirkt zudem als Katalysator für Unfälle, vor allem Verkehrsunfälle. Am Wochenende, in der Nacht oder am Abend passieren die meisten Unfälle unter Alkoholeinfluss. Der Zusammenhang zwischen Alkohol und Gewalt ist ebenfalls stark, wobei der Alkohol der Auslöser sein kann, aber die Gewalt hat andere Gründe. Die Schäden aus Unfällen und Gewalt können die Opfer ein Leben lang begleiten. Dies gilt ebenso für alkoholbedingte Krankheiten, die lange dauern und die Lebensqualität über Jahre senken.
Fehleinschätzungen der Wirkung
Alkoholtrinkende schätzen sowohl die Menge als auch die Wirkung des Alkohols oft falsch ein. Wenige Gläser Bier sind problematisch, geschweige denn die Alkoholmenge von Wein und noch mehr von Spirituosen. Alkohol schränkt bereits ab 0,3 Volumenprozent die Sinneswahrnehmung massiv ein, obwohl das Autofahren bis 0,5 Volumenprozent legal ist. Deswegen sollte vor und während bestimmter Situationen gar nicht getrunken werden. Ganz nach dem Motto: «Wenn Null das Maximum ist.»
Wenn jemand trotzdem Alkohol trinkt, dann sollte die Person Alkohol langsam und reduziert konsumieren. Das entlastet den Körper und vor allem die Leber. Durst sollte mit einem nichtalkoholischen Getränk gestillt werden. Generell gilt: Weniger trinken ist besser!
Martin Bienlein, Verantwortlicher Public Affairs und Mediensprecher